Dr. Klaus Heer

bluewin.ch vom 5. März 2020
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«Der landläufige Irrtum besagt, dass Männer treuloser sind»

Als Therapeut sitzt Klaus Heer seit über 40 Jahren Paaren gegenüber, die in Krisen stecken. Ein Gespräch über das Fremdgehen, das Verzeihen und darüber, ob Paare Geheimnisse aushalten sollten.

INTERVIEW: BRUNO BÖTSCHI
Herr Heer, mit wie vielen Paaren haben Sie in den über 40 Jahren, in denen Sie als Therapeut tätig sind, zusammengearbeitet?
Seit dem Start meiner Paartherapie-Praxis im Jahre 1974 hat es für mich keine Auszeit gegeben. 1982 wurde ich zum ersten Mal Vater und habe mit meiner Frau die bezahlte und die unbezahlte Arbeit hälftig geteilt. Bis heute bin ich nie mehr zur Vollzeit-Erwerbsarbeit zurückgekehrt. Jeden Tag acht Stunden Paarknatsch, das wäre mir zu viel. Vier Stunden sind gut.

Wollen Sie keine Zahl nennen?
Ist mir zu aufwendig. Bitte selber rechnen.

Was sind das für Paare, die zu Ihnen kommen?
Alles Paare mit ortsüblichen Liebesbeschwerden. Nichts Spektakuläres.

Und welches sind die ortsüblichen Liebesbeschwerden?
Hauptsächlich zweierlei Mühsal: Entweder es fehlt ein Minimum an Herzwärme, sodass beide krass zu kurz kommen. Oder ätzende Verwicklungen und bürgerkriegsähnliche Zustände machen ein Zusammenleben schwer.

Bringen die Paare häufig eine Selbstdiagnose mit?
Nein, sie kommen immer mit zwei Selbstdiagnosen an. Die Frau eine, der Mann eine andere. Einig sind sich beide meist nur in einem Punkt: Du bist schuld.

Wie gehen Sie im Gespräch vor, damit Sie möglichst schnell zum Problem vorstossen? Oder ist Schnelligkeit gar kein Ziel in der Paarberatung?
Doch, ich will sofort auf den Punkt kommen. Länger als zwei, drei Minuten dauert das selten. Und ja, ich bin wirklich interessiert, wie es den beiden geht, miteinander, mit dem Partner. Ich will wissen, was sie unglücklich macht und sauer und müde und resigniert. Alle beide sind froh, dass es da tatsächlich jemanden gibt, der das wissen möchte.

Wie schaffen Sie es, dass sich zwei bis dato fremde Menschen Ihnen so schnell öffnen?
Darüber staune ich manchmal selber. Vermutlich ist es einfach meine berufliche Routine, die es dem Paar vergleichsweise leicht macht, sofort zur Sache zu kommen. Vom Proktologen weiss man ja auch, dass er sich nichts draus macht, einem hinten reinzuschauen. So relativ unbefangen und einladend bin ich für heikle Themen. Zudem ist man als Mann und Frau nicht allein dieser etwas kniffligen Situation ausgeliefert. Man hat einander.

Wie hat sich die Art der Sitzungen in all den Jahren verändert?
Die Themen sind äusserlich ungefähr dieselben geblieben. Aber ich selbst bin anders geworden. Nämlich viel älter. Und unterwegs habe ich ein Grossteil meiner Angst vor Paaren verloren. Sagen wir: fast verloren. Ich bin wesentlich entspannter als früher. Das kommt natürlich unseren Dreiergesprächen zugute. Denn ich kann nur eine günstige Wirkung auf das Paar und seine Anliegen haben, wenn mir wohl ist.

Was passiert, wenn Ihnen unwohl ist während eines Gesprächs?
Zuerst rede ich mir gut zu. ‹Hier läuft’s nicht wunschgemäss›, sage ich zum Beispiel zu mir, innerlich. ‹Mein Gott, ist das stumpf und steinig!› Wenn ich genug Kraft habe, sag ich das dann laut. So ist das meistens. Selten mal ist die lähmende oder hypnotisierende Paarstimmung so stark, dass ich kurz raus muss. ‹Entschuldigen Sie mich bitte, ich bin gleich wieder da.› Ich geh in meine Küche, schaue aus dem Fenster, hinüber zum Nachbarhaus, hinaus aus der Problem-Trance, mit der mich das Paar eingenebelt hat; nach einer oder anderthalb Minuten ist gut, ich gehe zurück zu meinen Gästen – wieder nüchtern, handlungsfähig, wohl.

Sind Sie immer ruhig und gelassen?
In früheren Jahren bin ich ab und zu sauer geworden und habe meine Lautstärke um zehn bis 15 Dezibel aufgedreht, fast auf den Pegel meines Klientenpaares. Eine starke Nummer war das nie wirklich. Eher ein Beleg für meine akute Hilflosigkeit. Das passiert mir praktisch nicht mehr. Inzwischen bin ich ein zu erfahrener Gastgeber, zum Glück. Zum Glück für meine Gäste und für mich. Ein Quäntchen Abgebrühtheit muss sein in diesem seltsamen Job.

Haben Sie auch schon Gespräche abgebrochen, weil es Ihnen zu viel wurde?
Nein. Ich habe noch niemanden rauskomplimentiert. Ich bin ja hier im Heimvorteil, eigene Fluchttendenzen kenne ich nicht. Im Unterschied zu den Paaren, sie sind fremd bei mir. Aber ein paar Leute – Mann oder Frau, nie beide – sind schon aufgestanden und haben das Weite gesucht. Weil sie gestresst waren oder überfordert oder sich ungerecht behandelt fühlten. Und ich habe noch nie einen Flüchtenden zurückzuhalten versucht.

Was passiert, wenn die eine Hälfte des Paares das Gespräch abbricht?
Meistens einigen sich die beiden zu Hause, ob sie noch einmal zu mir kommen wollen oder nicht. Diese Entscheidung ist ja nach jeder Sitzung fällig.

Wenn ein Paar Ihren Rat sucht, weil der Mann oder die Frau fremdgegangen ist, haben Sie dann ein Gefühl dafür, ob die beiden sich trennen?
Nein, nicht im Geringsten. Im Fach Hellseherei bin ich total unbegabt. Jedes Paar ist eine Wundertüte.

Raten Sie für sich selber trotzdem manchmal?
Ja, das kommt vor. Darum weiss ich ja auch, dass ich fast immer daneben liege.

Wer geht häufiger fremd: Frauen oder Männer?
Der landläufige Irrtum besagt, dass Männer treuloser sind. Aber Vorsicht: Die Männer sollten sich besser nicht auf diese Klischee-Idee verlassen. Es droht womöglich ein böses Erwachen. Die Frauen sind mächtig am Aufholen.

Sind Sie selbst schon fremdgegangen oder betrogen worden?
Mmhh – ein Deal: Sie legen hier als Erster Ihre Untreue-Bilanz offen. Dann ziehe ich nach.

Während meiner allerersten, längeren Beziehung bin ich fremdgegangen, später nicht mehr.
Willkommen im Club! Im Club der nicht vollständig Zähmbaren. Niemand weiss, wie gross unser Club in Wirklichkeit ist. Wer wird schon gern dem freundlichen Befrager vom Statistischen Amt am Telefon die persönliche Bewirtschaftung seines Geschlechtstriebes detailliert und wahrheitsgemäss anvertrauen? So kommt es, dass die kolportierten Mitgliederzahlen unseres Clubs in der Presse himmelweit auseinanderliegen.

Machen entschuldigend gemeinte Sätze wie ‹Es war nur Sex› alles nur noch schlimmer?
‹Nur Sex› ist für die meisten Betrogenen die schlimmstmögliche Betrugsvariante. Sie verstört und schmerzt extrem. Die angestrebte schonende Relativierung funktioniert nur selten. Verständlicherweise. Denn der Fremdgänger ist nicht mehr vertrauenswürdig.
Betrogene wollen oft Details wissen. Was sagen Sie als Therapeut dann?
Details sind wie Puzzleteile, die hinter dem Rücken des betrogenen Partners versteckt gehalten wurden. Er möchte jetzt endlich Transparenz herstellen; das heisst, das lädierte Vertrauen reparieren. Der miese Haken dabei: Der Betrogene muss einigermassen zuverlässig einschätzen, ob er die Infos wird vertragen können, die er sich da zumutet.

Und wenn es einmal heraus ist, wie geht es dann weiter?
Jetzt stehen grosse Weichenstellungen an: Nachdem wir uns beide von wahrhaft neuen Seiten haben kennenlernen müssen oder dürfen, haben wir zu entscheiden, ob wir uns so fremd, wie wir uns jetzt sind, weiterhin gegenseitig zumuten wollen oder nicht. Fremdgehen bekommt also einen ganz neuen Zusatz-Sinn.

Worüber sollte ein Paar reden, wenn ein Partner fremdgegangen ist? Worüber nicht?
Über diese Frage braucht sich niemand Gedanken zu machen. Wenn sich eine Fremdgängerin erwischen lässt – die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, wegen des Handys –, dann läuft alles, wie es laufen muss: Man redet und redet, weint und wütet, Tag und Nacht, unsteuerbar und chaotisch, verzweifelt bis zur Erschöpfung.

Hat der One-Night-Fremdgänger eine zweite Chance verdient, nicht jedoch der Seitenspringer, der sich eine monatelange Affäre leistete?
Woher soll ich das wissen? Das entscheidet einzig und allein die Betrogene. Sie gewichtet die Schwere des Verrats und der Verletzung. Der Untreue hat null Möglichkeit, diese Gewichtung auch nur minim zu beeinflussen. Eigentlich kann er in dieser heissen Phase nur Fehler machen.

Affären können der Selbsterforschung dienen: Man will sich noch einmal jung fühlen, möchte Verpasstes nachholen.
Selbsterforschung nennen Sie das? Was so naheliegend ist, braucht man nicht zu beforschen. Es ist vibrierender Ausdruck des bekannten Dilemmas zwischen Geborgenheit und Abenteuer. Beides ist nicht gleichzeitig zu haben.

Offenbar sollen viele Menschen Affären nach einer Verlusterfahrung beginnen, zum Beispiel, wenn jemand Nahestehender stirbt. Ist das auch Ihre Erfahrung?
Nein, nur ganz vereinzelt. Viel häufiger ergibt es sich, dass eine Frau und ein Mann, die je in unglücklichen Ehen leben, beieinander Trost und Verständnis finden. Schliesslich auch in einem dritten Bett.

Kann es eine Lösung sein, wenn der Betrogene sagt, jetzt geh’ ich auch fremd. Sprich: Lässt sich mit Rachesex das beschädigte Selbstwertgefühl aufpäppeln?
Kaum. Meistens hat der Betrogene jetzt ganz anderes zu tun, nämlich mit dem zersplitterten Vertrauen zurechtzukommen. Ausserdem ist selten die dafür nötige Geliebte in Griffnähe.

Was muss der Partner tun, der fremdgegangen ist?
Vorerst nur eines: Die drastische Bestürzung des Betrogenen a-u-s-h-a-l-t-e-n. Wenn’s geht, mit einem Millimeter weit offenen empathischen Herzen.

Wie wichtig ist Verzeihen?
Nichts überstürzen! Wer noch klaffende oder auch eiternde Wunden mit sich herumträgt, kann nicht verzeihen. Unmöglich. Platz für Vergebung öffnet sich oft erst nach Monaten, nach Jahren. Wenn überhaupt. Die Verzeihens-Ressourcen sind sehr ungleich verteilt unter den Betrogenen.

Wie lassen sich Kränkung und Entwertung durch den Seitensprung des Partners am besten verarbeiten?
Erstens: Die verstörte Reaktion aushalten. Zweitens: Die aggressive Reaktion aushalten. Drittens: Die untröstliche Reaktion aushalten. Wieder und wieder zurück auf Feld eins. Und aushalten immer aufrecht, nicht auf allen Vieren.

Kann ‹Schwamm darüber› überhaupt funktionieren?
Nein. Strich drunter auch nicht.

Was tun, wenn die Angst bleibt, der andere könnte es wieder tun?
Diese Angst ist ja alles andere als unberechtigt. Zum zweiten Untreue-Event ist die Schwelle erfahrungsgemäss niedriger als beim ersten Mal. Das beweist, dass es nichts bringt, einander einzusperren. Niemand hat ein Treue-Gen in sich. Gar niemand. Das heisst im Klartext: Lieben ist riskant.

So grundsätzlich: Sollten Paare Geheimnisse aushalten können?
Ja, sicher. Alles andere wäre der chinesische Überwachungsstaat im Taschenformat, in den eigenen vier Wänden. Meine persönliche Schätzung: 40 bis 45 Prozent meiner Gedanken halte ich vor meiner Partnerin geheim. Meine beziehungsinterne Privatsphäre ist mir überlebensnotwendig.

Wann ist eine Paartherapie ratsam?
Wenn beide finden: Das machen wir jetzt. Oder wenn der eine unter grossem Leidensdruck steht und diesen Druck dringend mit dem anderen teilen möchte – um die Liebe aus dem Schlamassel zu bringen. In diesem Fall geht es manchmal wirklich nicht ohne etwas Druck auf das widerständige Gegenüber.

Wie hoch ist Ihre Erfolgsquote?
Ha, eine typische Journalistenfrage. Die Paare selbst fragen mich das nie. Vermutlich weil sie wissen, dass sich Mann und Frau unter ‹Erfolg› etwas anderes vorstellen. Und ich bin – um es geschraubt zu beschreiben – ergebnisoffen. Einfach weil ich keine Ahnung habe, was für sie, für ihn und für sie beide das Wünschbare sein könnte. Also wird das Ergebnis wohl für beide eine Ernüchterung sein. Das heisst: Zweimal nüchtern ist besser als eine einvernehmliche hohle Romantik. Denn es ist diese gemeinsame romantische Wahnvorstellung, die Paare mit Problemen eindeckt.

Warum sind Sie mit 76 Jahren eigentlich noch nicht im Ruhestand?
Keine Lust auf R.I.P.

Wenn Sie auf Ihre berufliche Karriere zurückblicken – was ist das Anstrengendste in Ihrem Beruf?
Buchhaltung und Steuererklärung. Alles andere hält mich wach und in Schwung.

Das Interview wurde schriftlich geführt.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor