Was ist guter Sex?
Diese Frage stellte die Journalistin Barbara Lukesch dem Berner Paartherapeuten Klaus Heer. Entstanden ist daraus ein Buch über «das Beste aller Themen». Wir bringen Auszüge.Zentralschweiz am Sonntag – 4. Oktober 2009
Klaus Heer, warum müssen Paare miteinander
über ihre Sexualität reden? Klaus Heer: Sie müssen gar nichts! Aber Paare müssen wissen: Eine stumme Sexualität verkümmert. Ich bin so gut wie sicher, dass man Sexualität nicht über längere Zeit am Leben erhalten kann, wenn man stumm ist und sich nicht austauscht.
Je länger Paare schweigen, umso schwieriger dürfte es sein, eines Tages doch noch miteinander ins Gespräch zu kommen. Es baut sich eine regelrechte Schwellenangst auf, die bedrohliche Ausmasse annehmen kann. Ich hatte kürzlich ein Paar in meiner Praxis, das seit 28 Jahren verheiratet ist. Der Mann hatte das Bedürfnis, ihre Sexualität wieder zum Glänzen zu bringen. Da sagte die Frau, sie müsse ihm gestehen, dass sie noch nie freiwillig mit ihm geschlafen habe. Was für eine Bombe für den Mann! Er war am Boden zerstört. Er hatte keine Ahnung gehabt, weil seine Frau ihre Lustlosigkeit aus Angst vor seiner Reaktion die vielen Jahre versteckt hatte. Es ist ja eigentlich eine Realität: Die Sexualität des Mannes passt nicht automatisch zu derjenigen der Frau und umgekehrt. Nun ist es die anspruchsvolle Aufgabe eines jeden Paares, mit diesem Unterschied zurechtzukommen. Nein, nicht zurechtzukommen! Besser, diesen Unterschied zu entdecken und nutzbar zu machen. Und wie, um Himmels willen, soll das gehen, wenn die beiden nicht zusammen reden?
Vielleicht ist das Reden über die eigene Sexualität ja auch deshalb so verpönt, weil es das Begehren entlarvt, dass wir nicht nur Sex haben wollen, sondern auch noch wollen, dass er gut ist. Die meisten Menschen, die man fragt, wie denn ihr Sex sei, sagen: zu selten! Zu wenig. Oder: zu viel. Sie geben rein quantitative Auskünfte, die Qualität ist gar kein Thema. In meiner Praxis bitte ich deshalb Paare, ihre Sexualität auf einer Skala von sechs, sehr guter Sex, bis eins, miserabler Sex, einzustufen.
Und? Das fällt den meisten nicht leicht. Noch mehr Mühe haben sie, wenn sie einschätzen sollen, welche Note ihr Partner oder ihre Partnerin wohl der gemeinsamen Sexualität geben wird. Da liegen fast alle daneben. Männer vermuten meist, ihre Frau benote den gemeinsamen Sex höher, als sie es tatsächlich tut. Bei den Frauen ist es genau umgekehrt: Sie nehmen an, dass die Einschätzung des Mannes tiefer sei, als sie es in Wirklichkeit ist. Es ist interessant, wie unbeholfen wir reagieren, wenn wir die Qualität unserer Sexualität präzis beschreiben sollen.
Daran ist doch auch die Sexualwissenschaft schuld, die am liebsten Koitusfrequenzen misst. Vielleicht liefert die Sexualwissenschaft aber auch nur das, was die Leute hören und sagen wollen: wie oft? Man will eine Durchschnittszahl, an der man sich messen kann. Dann weiss man im besten Fall, dass man der Norm entspricht, also normal ist.
Wie beginnt man ein Gespräch über die Qualität? Ich glaube, es führt kein Weg daran vorbei, dass man einfach mal sagt: «Mir gefällt das, was wir miteinander im Bett machen, nicht mehr. Ich möchte einen neuen Anfang machenmachen.
Möchtest du wissen, was ich gern mit dir zusammen ändern möchte?» Das klingt ziemlich direkt. Man kann auch eine Softvariante wählen. Die Frau, der es immer zu schnell geht im Bett, könnte ihrem Mann sagen: «Du, gestern Abend, da hast du mich länger und ausgiebiger berührt als sonst, das war himmlisch.» So bringt sie ihn auf eine viel sanftere Art auf die Spur.
Sehen Sie keine Gefahr, dass man die Sexualität auch zerreden kann? Diese Befürchtung äussern vor allem Leute, die überhaupt noch nicht mit dem Reden begonnen haben. Ich habe in meiner Praxis selten Paare gesehen, die ihre Sexualität zerreden.
Wer ist sprachbegabter – Männer oder Frauen? Früher hätte ich sofort gesagt: die Frauen. Heute bin ich da nicht mehr so sicher.
Ist es sinnvoll, sich gegenseitig die sexuellen Fantasien zu erzählen?
Viele Paare wissen oder spüren selbst ziemlich genau, was sie sich zutrauen können und wollen. Falls nicht, wenn also zum Beispiel ein Mann seiner Partnerin grobschlächtige erotische Bilder auftischt, finden sich die beiden in Teufels Küche wieder. Wie immer, wenn psychische Gewalt in irgendeiner Form mitspielt.
Pornografie kann heute dank Internet jederzeit, überall und in all ihren Ausprägungen konsumiert werden. Was sind die Folgen für jene, die das regelmässig tun? Seit der intensiven Beschäftigung mit dem Thema kann ich der Pornografie fast nichts Positives mehr abgewinnen. Lange dachte ich, Pornografie sei eigentlich eine gute Sache für zu kurz gekommene Männer.
Und jetzt? Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. In letzter Zeit bewegt mich eine ganz seltsame Wehmut, und ich wünschte mir, ich hätte alle diese Bilder nie gesehen. Was da alles auf mich eingestürmt ist im Laufe meiner 66 Jahre, hat mir einfach nicht gut getan. Ich glaube, ohne all diese Pornobilder und -texte wäre ich erotisch nicht so ausgelaugt und abgebrüht, wie ich es jetzt bin, und wie wir Männer doch alle sind.
Wie gross sind die Unterschiede zwischen der weiblichen und der männlichen Sexualität? Fragen Sie mich etwas Einfacheres! Ob die Unterschiede zwischen den Geschlechtern wirklich grösser sind als die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen, weiss ich nicht. Ein John Gray, der unentwegt hinausposaunt, dass die Männer vom Mars und die Frauen von der Venus stammen, ist mir suspekt. Ich sehe nur Männer, die aus Bülach kommen und Frauen aus Bümpliz, Menschen also mit ihren je eigenen Geschichten, mit denen zusammen ich aber gern anregende Vermutungen anstelle, um sie zum liebevoll-hartnäckigen Aneinander-interessiert-Sein zu verführen.
Je länger Paare schweigen, umso schwieriger dürfte es sein, eines Tages doch noch miteinander ins Gespräch zu kommen. Es baut sich eine regelrechte Schwellenangst auf, die bedrohliche Ausmasse annehmen kann. Ich hatte kürzlich ein Paar in meiner Praxis, das seit 28 Jahren verheiratet ist. Der Mann hatte das Bedürfnis, ihre Sexualität wieder zum Glänzen zu bringen. Da sagte die Frau, sie müsse ihm gestehen, dass sie noch nie freiwillig mit ihm geschlafen habe. Was für eine Bombe für den Mann! Er war am Boden zerstört. Er hatte keine Ahnung gehabt, weil seine Frau ihre Lustlosigkeit aus Angst vor seiner Reaktion die vielen Jahre versteckt hatte. Es ist ja eigentlich eine Realität: Die Sexualität des Mannes passt nicht automatisch zu derjenigen der Frau und umgekehrt. Nun ist es die anspruchsvolle Aufgabe eines jeden Paares, mit diesem Unterschied zurechtzukommen. Nein, nicht zurechtzukommen! Besser, diesen Unterschied zu entdecken und nutzbar zu machen. Und wie, um Himmels willen, soll das gehen, wenn die beiden nicht zusammen reden?
Vielleicht ist das Reden über die eigene Sexualität ja auch deshalb so verpönt, weil es das Begehren entlarvt, dass wir nicht nur Sex haben wollen, sondern auch noch wollen, dass er gut ist. Die meisten Menschen, die man fragt, wie denn ihr Sex sei, sagen: zu selten! Zu wenig. Oder: zu viel. Sie geben rein quantitative Auskünfte, die Qualität ist gar kein Thema. In meiner Praxis bitte ich deshalb Paare, ihre Sexualität auf einer Skala von sechs, sehr guter Sex, bis eins, miserabler Sex, einzustufen.
Und? Das fällt den meisten nicht leicht. Noch mehr Mühe haben sie, wenn sie einschätzen sollen, welche Note ihr Partner oder ihre Partnerin wohl der gemeinsamen Sexualität geben wird. Da liegen fast alle daneben. Männer vermuten meist, ihre Frau benote den gemeinsamen Sex höher, als sie es tatsächlich tut. Bei den Frauen ist es genau umgekehrt: Sie nehmen an, dass die Einschätzung des Mannes tiefer sei, als sie es in Wirklichkeit ist. Es ist interessant, wie unbeholfen wir reagieren, wenn wir die Qualität unserer Sexualität präzis beschreiben sollen.
Daran ist doch auch die Sexualwissenschaft schuld, die am liebsten Koitusfrequenzen misst. Vielleicht liefert die Sexualwissenschaft aber auch nur das, was die Leute hören und sagen wollen: wie oft? Man will eine Durchschnittszahl, an der man sich messen kann. Dann weiss man im besten Fall, dass man der Norm entspricht, also normal ist.
Wie beginnt man ein Gespräch über die Qualität? Ich glaube, es führt kein Weg daran vorbei, dass man einfach mal sagt: «Mir gefällt das, was wir miteinander im Bett machen, nicht mehr. Ich möchte einen neuen Anfang machenmachen.
Möchtest du wissen, was ich gern mit dir zusammen ändern möchte?» Das klingt ziemlich direkt. Man kann auch eine Softvariante wählen. Die Frau, der es immer zu schnell geht im Bett, könnte ihrem Mann sagen: «Du, gestern Abend, da hast du mich länger und ausgiebiger berührt als sonst, das war himmlisch.» So bringt sie ihn auf eine viel sanftere Art auf die Spur.
Sehen Sie keine Gefahr, dass man die Sexualität auch zerreden kann? Diese Befürchtung äussern vor allem Leute, die überhaupt noch nicht mit dem Reden begonnen haben. Ich habe in meiner Praxis selten Paare gesehen, die ihre Sexualität zerreden.
Wer ist sprachbegabter – Männer oder Frauen? Früher hätte ich sofort gesagt: die Frauen. Heute bin ich da nicht mehr so sicher.
Ist es sinnvoll, sich gegenseitig die sexuellen Fantasien zu erzählen?
Viele Paare wissen oder spüren selbst ziemlich genau, was sie sich zutrauen können und wollen. Falls nicht, wenn also zum Beispiel ein Mann seiner Partnerin grobschlächtige erotische Bilder auftischt, finden sich die beiden in Teufels Küche wieder. Wie immer, wenn psychische Gewalt in irgendeiner Form mitspielt.
Pornografie kann heute dank Internet jederzeit, überall und in all ihren Ausprägungen konsumiert werden. Was sind die Folgen für jene, die das regelmässig tun? Seit der intensiven Beschäftigung mit dem Thema kann ich der Pornografie fast nichts Positives mehr abgewinnen. Lange dachte ich, Pornografie sei eigentlich eine gute Sache für zu kurz gekommene Männer.
Und jetzt? Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. In letzter Zeit bewegt mich eine ganz seltsame Wehmut, und ich wünschte mir, ich hätte alle diese Bilder nie gesehen. Was da alles auf mich eingestürmt ist im Laufe meiner 66 Jahre, hat mir einfach nicht gut getan. Ich glaube, ohne all diese Pornobilder und -texte wäre ich erotisch nicht so ausgelaugt und abgebrüht, wie ich es jetzt bin, und wie wir Männer doch alle sind.
Wie gross sind die Unterschiede zwischen der weiblichen und der männlichen Sexualität? Fragen Sie mich etwas Einfacheres! Ob die Unterschiede zwischen den Geschlechtern wirklich grösser sind als die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen, weiss ich nicht. Ein John Gray, der unentwegt hinausposaunt, dass die Männer vom Mars und die Frauen von der Venus stammen, ist mir suspekt. Ich sehe nur Männer, die aus Bülach kommen und Frauen aus Bümpliz, Menschen also mit ihren je eigenen Geschichten, mit denen zusammen ich aber gern anregende Vermutungen anstelle, um sie zum liebevoll-hartnäckigen Aneinander-interessiert-Sein zu verführen.
Lassen Sie uns über weit verbreitete Irrtümer und Mythen in Zusammenhang mit der Sexualität sprechen. Welchem Missverständnis begegnen Sie bei Ihrer täglichen Arbeit am häufigsten?
Es gibt einen Satz, den ich oft höre und der einen Grundirrtum über Sexualität zum Ausdruck bringt: «Unser Sex klappt nicht mehr.» Damit wollen die Leute sagen, ihre Sexualität klemme, sie sei angeschlagen oder kaputt. In meinen Ohren klingt das, als würden sie über einen Apparat sprechen, der nicht mehr funktioniert. Dahinter verbirgt sich ein mechanisches Modell, das sich auf die Kurzformel bringen lässt: Sex muss klappen. Und zwar absurderweise «reibungslos».
Wer auf das problemlose Funktionieren fixiert ist, macht sich anfällig für Störungen aller Art. Das Interesse an sexuellen Störungen ist ja auch allgegenwärtig. Bei den Liebenden selbst, in Büchern, in Medien, überall. Und tatsächlich: Was kann rund um Sexualität nicht alles gestört sein! Die Lust, die Erregung, die Lubrikation bei der Frau, die Erektion beim Mann, die Ejakulation, der Orgasmus oder das Erlebnis als solches. Wer in dieser Logik denkt, wird ständig das mögliche Versagen vor Augen haben. Und Angst, Druck und Stress sind echte Lustkiller.
Gibt es andere Irrtümer über Sexualität, denen Sie wiederholt begegnen? Den Satz «Es ist doch nicht normal, dass wir nur einmal im Monat Sex haben» höre ich in Variationen regelmässig. Dieser Mythos von der Normalität in sexuellen Dingen verschüchtert viele Leute. Wer gewahr wird, dass bei ihm etwas nicht der sogenannten Norm entspricht, erschrickt mitunter mächtig. Interessanterweise rührt dieses Erschrecken mehr davon her, dass man die Norm verletzt, als daher, dass man in seinem Sexualleben Mangel leidet oder etwas vermisst. Dabei gibt es ja heutzutage gar niemanden mehr, der uns sagen könnte, was in der Sexualität normal ist. Wir sind frei, auf erschreckende Weise frei.
Was halten Sie von der Vorstellung, dass man ohne Sex nicht leben kann? Ein Märchen. Diese Vorstellung ist schlicht falsch. Denn Sex ist, anders als Atmen, Schlafen, Essen oder Trinken, in keiner Weise lebensnotwendig, es sei denn, man wolle ein Kind zeugen. Aber insbesondere in den Köpfen von Männern hält sich die Vorstellung standhaft, sie könnten ohne sexuelle Entladung nicht leben.
Was bliebe den Einzelnen, wenn sie sich von all den sexuellen Mythen, Missverständnissen und Irrtümern verabschiedeten, die ja trotz allem auch so etwas wie Wegleitungen darstellen? Die Freiheit, die eigene Beziehung neugierig und interessiert anzuschauen. Ich plädiere dafür, dass jedes Paar sich immer wieder neu fragt, wie es denn bei ihm sei. Ob bei ihm beispielsweise Sex und Liebe zusammengehören oder nicht.
Das hiesse dann auch, dass ein Paar zum Schluss kommen könnte: Wir leben wie Schwester und Bruder zusammen und sind zufrieden. Um Gottes willen ja, unbedingt. Das ist doch ein Glücksfall.
Was gilt landläufig als guter Sex? «Guter Sex» ist das, was man in Filmen, Fernsehserien und Büchern vorgesetzt bekommt: Zwei fühlen sich zueinander hingezogen, werden unaufhaltsam scharf aufeinander, gleich scharf und gleichzeitig. Sie erreichen gemeinsam ihren Orgasmus, das Ganze fegt über das Paar hinweg als leidenschaftlicher Sturm, da gibt es nichts zu reden. Hier gibts indes einen kleinen Haken. Solcher Sex existiert praktisch nur in den Medien und in unseren Köpfen. In unseren realen Doppelbetten ist er kaum erreichbar.
Nie? Sagen wir: selten. Es hat einfach keinen Sinn, sich darauf zu versteifen, es funktioniert wahrscheinlich nicht.
Und zwar, weil wir uns darauf versteifen. Was muss denn im Vordergrund stehen? Die Begegnung, die unmittelbare körperliche Begegnung zweier Menschen. Vielleicht ist das alles ein bisschen paradox. Wer guten Sex erreichen möchte, sollte nicht auf guten Sex aus sein, sondern darauf, dass er den intimen Kontakt zum anderen herstellen und halten kann. Dann geht eine neue Welt auf. Wenn ich hingegen auf «guten Sex» aus bin, verengt sich alles und wird anstrengend.
Wie könnte die Reise in das Neue aussehen, der Weg zum guten Sex? Vielleicht ist es gar nicht ein Weg, der dorthin führt. Vielleicht fängt alles mit einem grossen Vergessen an. Nämlich mit dem Vergessen von allem, was wir je über Sexuelles gelesen, gehört und vor allem gesehen haben (lacht). Ich weiss natürlich, dass das nicht geht…
Viele Frauen sagen, guter Sex sei eigentlich nur mit dem Mann möglich, den man liebt. Das ist vielleicht eine ziemlich romantische Vorstellung. Je nachdem, was man mit Liebe meint. Ich glaube schon, dass Sexualität und Liebe zusammengehören. Dass Sex in den meisten Beziehungsbiografien verdorrt ist, hat wohl damit zu tun, dass sich viele Menschen gegenseitig sexuell ausnützen. Oder einer den anderen. Und der andere lässt es zu, dass der eine ihn ausnützt.
Wie soll ich mir Sex vorstellen, der dank der Liebe richtig gut geworden ist? Vielleicht sind da weniger Liebesgefühle und innige Emotionen im Spiel, als man denkt. Eher Grosszügigkeit und Grossherzigkeit. Immer diese kleinliche Angst, zu kurz zu kommen: Was soll das? Ich könnte es doch mit verschwenderischer Zuwendung versuchen, könnte einfach geben und schenken. Ohne engherzig darauf zu schielen, was zurückkommt und ob es genug ist.
Wer auf das problemlose Funktionieren fixiert ist, macht sich anfällig für Störungen aller Art. Das Interesse an sexuellen Störungen ist ja auch allgegenwärtig. Bei den Liebenden selbst, in Büchern, in Medien, überall. Und tatsächlich: Was kann rund um Sexualität nicht alles gestört sein! Die Lust, die Erregung, die Lubrikation bei der Frau, die Erektion beim Mann, die Ejakulation, der Orgasmus oder das Erlebnis als solches. Wer in dieser Logik denkt, wird ständig das mögliche Versagen vor Augen haben. Und Angst, Druck und Stress sind echte Lustkiller.
Gibt es andere Irrtümer über Sexualität, denen Sie wiederholt begegnen? Den Satz «Es ist doch nicht normal, dass wir nur einmal im Monat Sex haben» höre ich in Variationen regelmässig. Dieser Mythos von der Normalität in sexuellen Dingen verschüchtert viele Leute. Wer gewahr wird, dass bei ihm etwas nicht der sogenannten Norm entspricht, erschrickt mitunter mächtig. Interessanterweise rührt dieses Erschrecken mehr davon her, dass man die Norm verletzt, als daher, dass man in seinem Sexualleben Mangel leidet oder etwas vermisst. Dabei gibt es ja heutzutage gar niemanden mehr, der uns sagen könnte, was in der Sexualität normal ist. Wir sind frei, auf erschreckende Weise frei.
Was halten Sie von der Vorstellung, dass man ohne Sex nicht leben kann? Ein Märchen. Diese Vorstellung ist schlicht falsch. Denn Sex ist, anders als Atmen, Schlafen, Essen oder Trinken, in keiner Weise lebensnotwendig, es sei denn, man wolle ein Kind zeugen. Aber insbesondere in den Köpfen von Männern hält sich die Vorstellung standhaft, sie könnten ohne sexuelle Entladung nicht leben.
Was bliebe den Einzelnen, wenn sie sich von all den sexuellen Mythen, Missverständnissen und Irrtümern verabschiedeten, die ja trotz allem auch so etwas wie Wegleitungen darstellen? Die Freiheit, die eigene Beziehung neugierig und interessiert anzuschauen. Ich plädiere dafür, dass jedes Paar sich immer wieder neu fragt, wie es denn bei ihm sei. Ob bei ihm beispielsweise Sex und Liebe zusammengehören oder nicht.
Das hiesse dann auch, dass ein Paar zum Schluss kommen könnte: Wir leben wie Schwester und Bruder zusammen und sind zufrieden. Um Gottes willen ja, unbedingt. Das ist doch ein Glücksfall.
Was gilt landläufig als guter Sex? «Guter Sex» ist das, was man in Filmen, Fernsehserien und Büchern vorgesetzt bekommt: Zwei fühlen sich zueinander hingezogen, werden unaufhaltsam scharf aufeinander, gleich scharf und gleichzeitig. Sie erreichen gemeinsam ihren Orgasmus, das Ganze fegt über das Paar hinweg als leidenschaftlicher Sturm, da gibt es nichts zu reden. Hier gibts indes einen kleinen Haken. Solcher Sex existiert praktisch nur in den Medien und in unseren Köpfen. In unseren realen Doppelbetten ist er kaum erreichbar.
Nie? Sagen wir: selten. Es hat einfach keinen Sinn, sich darauf zu versteifen, es funktioniert wahrscheinlich nicht.
Und zwar, weil wir uns darauf versteifen. Was muss denn im Vordergrund stehen? Die Begegnung, die unmittelbare körperliche Begegnung zweier Menschen. Vielleicht ist das alles ein bisschen paradox. Wer guten Sex erreichen möchte, sollte nicht auf guten Sex aus sein, sondern darauf, dass er den intimen Kontakt zum anderen herstellen und halten kann. Dann geht eine neue Welt auf. Wenn ich hingegen auf «guten Sex» aus bin, verengt sich alles und wird anstrengend.
Wie könnte die Reise in das Neue aussehen, der Weg zum guten Sex? Vielleicht ist es gar nicht ein Weg, der dorthin führt. Vielleicht fängt alles mit einem grossen Vergessen an. Nämlich mit dem Vergessen von allem, was wir je über Sexuelles gelesen, gehört und vor allem gesehen haben (lacht). Ich weiss natürlich, dass das nicht geht…
Viele Frauen sagen, guter Sex sei eigentlich nur mit dem Mann möglich, den man liebt. Das ist vielleicht eine ziemlich romantische Vorstellung. Je nachdem, was man mit Liebe meint. Ich glaube schon, dass Sexualität und Liebe zusammengehören. Dass Sex in den meisten Beziehungsbiografien verdorrt ist, hat wohl damit zu tun, dass sich viele Menschen gegenseitig sexuell ausnützen. Oder einer den anderen. Und der andere lässt es zu, dass der eine ihn ausnützt.
Wie soll ich mir Sex vorstellen, der dank der Liebe richtig gut geworden ist? Vielleicht sind da weniger Liebesgefühle und innige Emotionen im Spiel, als man denkt. Eher Grosszügigkeit und Grossherzigkeit. Immer diese kleinliche Angst, zu kurz zu kommen: Was soll das? Ich könnte es doch mit verschwenderischer Zuwendung versuchen, könnte einfach geben und schenken. Ohne engherzig darauf zu schielen, was zurückkommt und ob es genug ist.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor