Dr. Klaus Heer

wir eltern 6/2020
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«Ohne Freiheit wird die Liebe sauer»

«In unserem Corona-Kittchen ist manches aus den Fugen, ebenso in unserem Innern.» Paartherapeut und Psychologe Klaus Heer über Neudefinition der Liebe, über Eifersucht, Kontrolle und die Unlust, schwimmen zu lernen, obwohl der Pegel steigt.

INTERVIEW: ANITA ZULAUF
wir eltern: Klaus Heer, werden Sie bald arbeitslos?
Klaus Heer: Ja, aber nur wenn mich das Coronavirus flachlegt. Es wäre das erste Mal in 46 Berufsjahren, dass ich arbeitslos würde.

Ich frage, weil die Angst das Bindungs­bedürfnis aktivieren soll. In Krisenzeiten rücken Paare demnach enger zusammen.
Ganz so einfach ist es nicht. Beziehungen werden nicht nur durch Angst bedrängt. Angst und Ungewissheit sind Emotionen, die uns vielleicht zusammenschweissen könnten. Aber ...

... aber viele Menschen beklagten sich bereits wenige Tage nach dem Lockdown über die permanente Anwesenheit des Partners. Halten unsere Paarbeziehun­gen so wenig aus?
Sie sind ungerecht! Sie vergessen, dass zu der grossen diffusen Bedrohung in vielen Haushaltungen jede Menge Ärger hinzukommt. Die erzwungene Nähe wird immer mehr zu Reibung. Das ist schwer auszuhalten. Wir sind komplett ungeübt in Sachen zweisamer Dichtestress.

Die Pandemie hat uns kalt erwischt.
Eben. Das haben wir noch nie erlebt. Mit beziehungsinterner Atemnot können wir kaum umgehen. Wo und wie sollten wir das gelernt haben? Es ist unfassbar paradox: hausintern Enge und Beklemmnis, rundum Abschottung und Abstand.

Das Unwohlsein steigt. Da sind einerseits zunehmende staatliche und polizeiliche Kontrolle. Kameraüberwachung und Handytracing sind Realitäten ...
... die uns tatsächlich blühen – Gott bewahre!

... und andererseits zu Hause die Kontrolle des Partners.
Ja, also ein zweites Paradoxon: In unserer Privatsphäre droht uns das Privateste abhanden zu kommen. Unter dem Regime von Zuhausebleiben und Homeoffice lässt sich die lückenlose gegenseitige Überwachung nur schwer vermeiden. Man bekommt praktisch alles voneinander mit. Ob man will oder nicht. Wie zum Teufel soll man das denn ertragen?
«Nicht einmal in Ruhe onanieren können wir jetzt.»
Mit Liebe?
Ach, die Liebe ist das Kind der Freiheit, sagt ein französisches Bonmot. Ohne Freiheit wird die Liebe sauer.

Übrigens auch harte Zeiten für Fremd­gänger beiderlei Geschlechts, nicht wahr?
(Lacht kurz.) Nicht einmal in Ruhe onanieren können wir jetzt. Geschweige denn auf irgendeinem digitalen Kanal erotisch anmutende Aussenkontakte knüpfen oder pflegen. Aber genau genommen war Fremdgehen schon immer Hochrisiko-Verhalten. Die allermeisten Liebes-Ausreisser fliegen bekanntlich digital auf, via Handy und Computer. Weil sich verunsicherte Partner dort genauer umsehen.

Damit sind wir bei Argwohn und Kontrolle.
Menschen, die zusammengehören, können einander ja nicht lückenlos überwachen. Selbst wenn sies wollten. Ihre Liebe füllt diese Lücken mit Vertrauen. Ganz selbstverständlich. Die meisten Liebenden sind sich sogar sicher, dass sie einander hundert Prozent vertrauen können.

Absolutes Vertrauen ist doch ein schönes, starkes Gefühl?
Aber natürlich nicht realistisch, höchstens romantisches Wunschdenken. Unüberprüft, nicht lebensecht. Niemand kann wissen, wozu der Andere – und man selbst auch – letztendlich fähig ist. Wenn einer von beiden untreu wird, platzt die Illusion schlagartig. Das beweist, wie riskant Vertrauen ist.

Kommt dazu, dass wir viel darauf geben, auf eigenen Beinen zu stehen. Und dann stellen wir fest, dass wir drauf und dran sind, für die Zweisamkeit unsere Eigenständigkeit zu verlieren.
Sie sehen, hier haben wir bereits unsere dritte paradoxe Klemme! Zwei starke gegenläufige Sehnsüchte lassen wir in unserem Inneren kollidieren: Wir wollen selbstbestimmt sein und gleichzeitig eng verbunden. Wir sehnen uns danach, innig im trauten Liebeshafen zu schunkeln und zeitgleich das Abenteuer auf dem offenen Meer anzupeilen. Das ist ein Kunststück, das nur wenigen einigermassen gelingt.

Ist bei Ihrer Arbeit Kontrolle oft Thema?
Ja, wenn Vertrauen angeschlagen oder ganz zu Bruch gegangen ist, muss Kontrolle einspringen. Kontrolle ist die Krücke, mit deren Hilfe ein Paar eine kritische Zeit vielleicht durchstehen kann. Wer hält es denn aus, dass der Faden der Liebesgewissheit zu reissen droht oder schon gerissen ist, wenn einer von beiden treulos wurde. Darum vereinbaren wir hier in der Paartherapie manchmal ein konkretes Überwachungsset. Der Betrogene verpflichtet sich zum Beispiel, den Partner mindestens sechs Mal pro Tag per WhatsApp nachzuverfolgen – etwas, was er sowieso bereits macht, nur im Geheimen und mit einem unguten Gefühl.

Und dann?
Jetzt in der Corona-Zeit sorgt er, der Hintergangene, vielleicht zuverlässig dafür, dass ihm der Untreue auf Verlangen immer wieder sein entsperrtes Handy vorlegt. Solche Vereinbarungen sind vertrauensbildende Massnahmen. Wenn wir Glück haben.

Das klingt sehr anstrengend und nach Zwang. Wie kommt man da wieder raus?
Es gibt Vertrauensbrüche, die schwer heilende Wunden hinterlassen. Und diese Wunden zeigen sich in den verschiedensten Formen. Als Wut und Aggression, als Gram und Schmerz, als Zweifel und Verzweiflung. Häufig als bodenloses Misstrauen.
Und Kontrolle soll helfen?
Ja, gut möglich. Wer von dem Menschen betrogen wird, den er liebt, erlebt eine besonders verstörende und schmerzliche Form von Kontrollverlust. Verbunden mit der grossen Angst, den bisher so geliebten Menschen zu verlieren. Diese schwierige Reaktion wird oft verwechselt mit Eifersucht.

Was ist denn Eifersucht wirklich?

Eifersucht gilt gewöhnlich als ein total sperriges, toxisches Gefühl und wird deswegen missbilligt und verachtet. Sie meldet sich in der Liebesgeschichte meistens viel früher. Nämlich dann, wenn die Liebe unterschwellig bedroht, gefährdet erscheint. Sie ist quasi das Frühwarnsystem der Liebe. Es ist heikel, diese Alarmsignale einfach abzustellen.

Sondern? Was kann man tun?
Wenn die Ampel an der Kreuzung Rot zeigt, werden Sie sie doch auch nicht einfach mit einem Backstein einschlagen oder? Sie werden innehalten. Die Eifersucht lädt Sie ein, sich gemeinsam mit dem Boden zu befassen, auf dem Ihre Liebe steht. Trägt er Sie noch? Beide? Was konkret erschüttert ihn allenfalls im Moment?

Eifersucht, Kontrolle, zu viel Nähe, zu wenig Freiheiten, Distanz zu Freunden: Die verwirrende Zeit von Corona ist für Partnerschaften eine besondere Herausforderung. Sind Singles zu beneiden?
Mit einer Prise Boshaftigkeit zitiere ich gern wieder einmal den antiken Sokrates: «Heirate und du wirst es bereuen. Heirate nicht, du wirst es bereuen.» So haben viele Verpaarte und viele Singles eines gemeinsam: Sie beneiden einander. Zu Recht.

Der jetzt erzwungene Bruch unserer Routinen und unseres Alltags könnte auch eine Chance sein.
Vielleicht. Fast alles um uns herum ist ungewiss und strittig. Auch in unserem Corona-Kittchen ist manches aus den Fugen. Seltsam. Irritierend. Ebenso in unserem Inneren. Das macht uns doch eher angst und bang als neugierig auf frische Chancen.

Sie spüren in Ihrer Arbeit keinen Ruck
unter den Menschen, einen Aufschwung, einen Willen zur Veränderung?

Nein. Im Moment nicht. Ich habe gestern von einer neuen Umfrage gelesen, wonach nur 15 Prozent der Leute sich eine wirkliche Veränderung in ihrem Leben wünschen. Die übrigen 85 Prozent möchten ganz einfach zurück zum Vor-Corona-Leben. Das kommt mir sehr bekannt vor. Ich habe auch nur geringe Lust, schwimmen zu lernen. Obwohl der Wasserpegel ansteigt.

Und die Liebe, wie wird sie sich in Zeiten von Corona verändern?
Vermutlich wird eine beinahe evolutionäre Anpassungsleistung nötig werden. Wir werden vielleicht das Lieben richtig neu definieren müssen. Die Liebe bleibt voraussichtlich kaum das verträumte Gefühl, das wir gewöhnlich mit ihr verbinden. Sie wird eher eine kraftvolle Entscheidung: Ja, ich halte zu dir! Was auch immer auf uns zukommt.

Das klingt jetzt wenig romantisch.
Ja, möglich. Der Charme dieser Liebe ist ziemlich herb. Aber bitte, das haben Sie bestimmt schon tausend Mal gehört: Die romantische ewige Liebe hat ein viel zu knappes Verfallsdatum. Ist nicht wirklich überlebensfähig. Ich weiss, man will das nicht wahrhaben. Nicht einmal, wenn die eigene Liebe am Verdorren ist.

Könnte es sein, dass Ihr Beruf Sie zum Liebes­Pessimisten gemacht hat?
(Überlegt länger.) Ja, ich bin wohl von Seelenverwandtschaft, Matching-Wahn und Liebesträumen abgekommen. Bin lieber ausgenüchtert und wach – bis ich mich das nächste Mal verliebe.

Wie geht es eigentlich Ihnen? Sie gehören zu der Corona­-Risikogruppe.
Mit meinen 77 Jahren lebe ich seit Langem riskant, nicht erst seit dem16.März.Aber das Risiko interessiert mich nicht. Ich habe viel zu tun. Beruflich, in der Paar-Praxis. Ich lese und schreibe viel. Ich liebe diese Lebenswucht.
«Eifersucht ist ein sperriges, toxisches Gefühl und wird deswegen verachtet.»
Haben Sie Kontakt zu Ihren Enkelkindern?
Ja, klar – und wie! Schon seit Anfang April habe ich mit ihnen bei wärmsten Klimawandelwetter im nahen Könizbergwald getroffen, immer wieder und mit dem grössten Vergnügen. Wir bauten eine grosse Zwergenstadt, und jedesmal, wenn wir wieder kamen, hatten andere Familien daran weitergearbeitet. Die illegale Corona-Town ist und bleibt ein Highlight für uns.

Was denken Sie, wie sieht unsere Gesellschaft aus nach Corona? Was wird bleiben?
Bleiben wird wohl vorerst die Aushebelung unserer verfassungsmässigen Grundrechte. Das gibt mir zu denken. Ich kann mir nicht so recht vorstellen, wie wir da wieder rauskommen. Und welche Spuren das in unserer Demokratie hinterlassen wird.

Werden sich die Menschen wieder so nahe kommen wie zuvor?
Ja, leider. Es ist zu befürchten.

Ups! Plädieren Sie generell für mehr Abstand, auch in der Partnerschaft?
Ja. Für mehr Platz und Raum, mehr Zwischenraum. Für mehr Spielraum. Zum immer wieder aufeinander Zugehen. Für die Anziehung. Zum Spielen. Zum Atmen. Zum Leben.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor