Dr. Klaus Heer

bluewin.ch vom 25. Juni 2020
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«Ich versichere Ihnen, so ein Deal wirkt Wunder»

Klaus Heer weiss, was Beziehungen guttut. Der Berner Paartherapeut über die Spielregeln der Liebe, öde Machtkämpfe – und was das Reizvolle an einer langjährigen Partnerschaft ist.

INTERVIEW: BRUNO BÖTSCHI
Herr Heer, Sie arbeiten seit über 45 Jahren als Paarberater, haben also sehr viel Erfahrung in Sachen Beziehungen sammeln können. Doch was ist das Geheimnis einer glücklichen Beziehung?
Ich ärgere mich jedes Mal, wenn eine Journalistin oder ein Journalist einem Jubelpaar etwa anlässlich seiner eisernen Hochzeit genau diese Frage stellt. Wie peinlich ist das denn!? Ein Geheimnis ist kein Geheimnis mehr, wenn irgendjemand sich drängen lässt, das «Geheimnis» zu lüften – weil er oder sie «sehr viel Erfahrung» hat.

Wäre es Ihnen genehmer gewesen, wenn ich nach dem Rezept für eine langjährige Beziehung gefragt hätte?
Nein, gar nicht. Stellen Sie sich einen Augenblick vor, Sie würden tatsächlich ein Paar-Menu nachkochen, das ich ihnen empfohlen hätte. Derlei Ratschläge sind zwar sehr gefragt, aber niemand befolgt sie. Zu Recht.

Wie lange sind Sie schon mit Ihrer Partnerin zusammen?
Das tut nichts zur Sache.

Ehen, die mehrere Jahrzehnte dauern, sind heutzutage eher Ausnahmefälle. Warum?
Ihre Behauptung ist falsch, ziemlich sicher. Man muss das Bundesamt für Statistik fragen. Ich vermute, es gibt immer noch sehr viele zählebige Ehen.

Ich versuche es nochmals: Wie steht es um die ewige Liebe?
Mies. Genauso mies wie um alle anderen putzigen Liebes-Hirngespinste. Eine zählebige Ehe hat null mit «ewiger Liebe» zu tun. Letztere gibt es nur in der verlogenen Kitschwelt.

Ach, Herr Heer, sind Sie heute Morgen mit dem linken Bein aufgestanden oder wollen Sie ernsthaft behaupten, dass es die ewige Liebe nicht gibt, respektive langjährige Beziehungen grundsätzlich zählebig sind?
Hui, lieber Bruno Bötschi, das sind drei Fragen auf einmal. Also von vorn. Ja, ich bin heute übel gelaunt. Aber nehmen Sie es nicht persönlich. Ja, jede Liebe, ohne jede Ausnahme, ist sterblich, also alles andere als ewig.  Und nein, nicht alle bejahrten Ehen sind unglücklich, bei Weitem nicht. Aber die meisten unglücklichen Ehen sind aus einem ähnlichen Grund desolat dran. Nämlich weil die Leute halt so romantischen Wahnvorstellungen aufsitzen wie «ewige Liebe» zum Beispiel. Liebeshalluzinationen bringen zweisames Unglück.

Das war jetzt ein Steilpass. Was bringt dann langjähriges zweisames Glück?
Wenn ich aufhöre zu halluzinieren, stehen meine Chancen besser. «Lieben heisst, sich mit der Wirklichkeit begnügen», hat mir der polnische Schriftsteller Stefan Napierski ins Stammbuch geschrieben. Sie sehen, Liebe und Glück sind nicht unbedingt Synonyme.

Mich hätte Ihre persönliche Meinung zum zweisamen Glück mehr interessiert. Aber nun denn: Heisst das, wer genügsam ist, kann auf eine lange Beziehung hoffen?
Moment! Das ist präzis meine persönliche Meinung. Und ich bin nicht «genügsam», wenn ich mich nicht von irriger Liebesromantik narren lasse. Ich will auch nicht auf eine lange Beziehung hoffen. Hoffnung macht unglücklich. Gegen zweisames Unglück hilft nur Nüchternheit. Jetzt! Augen und Ohren auf beim Zusammenleben! Hier und jetzt! Das ist nicht betulich. Auch nicht genügsam. Sondern radikal und beherzt.

Wie alles im Leben erfordert demnach auch die Liebe Anstrengung?
Was ist anstrengender: Einer Fata Morgana hinterherlaufen und das ersehnte Ziel niemals erreichen oder dem Abenteuer des eigenen Paar-Alltags tapfer in die Augen schauen? Mich selbst vermögen wonnige Liebesgespenster schon lange nicht mehr zu berauschen.

Jesses, Sie zeichnen ein ziemlich kompliziertes Bild unserer heutigen Lebens- und Beziehungswelt.
So elend verzwickt ist das gar nicht. Ein Beispiel: Ein Paar verwickelt sich immer wieder in öde Machtkämpfe und ist mit chronischer Lieblosigkeit und Dauerzank konfrontiert. Die beiden könnten sich darauf einigen, dass sie einander ab heute so ortsüblich nett behandeln wie ihre Nachbarn von nebenan. Und sie vereinbaren, einander freundlich an die Abmachung zu erinnern, falls sie vergessen gehen sollte. Vertragsdauer: vorerst drei Tage. Ich versichere Ihnen: so ein Deal wirkt Wunder. Sie werden einander viel besser aushalten als bisher.

Nichts also mit der Märchenliebe: «Und sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende»?
Nix Märchen, nix «bis dass der Tod». Erst mal drei Tage. Drei Tage niederschwellig wohlwollend und frei von psychischer Gewalt. Mehr nicht. Sie werden sehen: es geht. Und nach drei Tagen verlängern Sie Ihr Agreement. Zum Beispiel um weitere drei Tage. Und so weiter. Das geht wirklich.
Nochmals die Frage: Was tut der Liebe gut?
Die beiden Cervelats aus den Ohren klauben. Und wirklich hören wollen, was der andere sagt. Auch wenn es widerwärtig klingt.

Was halten Sie von dem Rat: Heirate nur einen Menschen, an dessen Macken und Tics du dich gewöhnen kannst, denn ändern wird sie oder er sich nie?
Die Idee hat was für sich. Aber vermutlich weiss man beim Heiraten nicht, ob man sich je an die Tics und Macken des Herzallerliebsten wird gewöhnen können. Dass man sie niemals ändern kann, das hat sich inzwischen herumgesprochen.

Gleich und Gleich gesellt sich gern? Oder doch besser: Gegensätze ziehen sich an?
Beide Kriterien können ein Paar zusammenbringen und zusammenhalten. Am Anfang einer Liebesgeschichte ist es wohl eher die Schnittmenge der Vorlieben und Interessen. Später zeigt sich meistens, dass man doch nicht so ähnlich ist wie man mal glaubte. Und dann mutieren die auftauchenden Differenzen zur Chance, aneinander zu wachsen und die Liebe gemeinsam zu entwickeln.

Was genau ist für Sie persönlich das Reizvolle an einer langjährigen Partnerschaft?
Dass ich nicht allein bin. Höchstens manchmal etwas einsam. Einsam zu zweit, meine ich. Aber das ist unvermeidlich und darum auszuhalten.

Ist das vielleicht der Schlüssel zum Glück: Akzeptieren, dass die Beziehung sich ändert, und gleichzeitig die Hoffnung aufgeben, dass die Partnerin, der Partner sich ändert?
Ja, alles ändert sich ständig, Ihre Beziehung, vor allem Ihre Partnerin. Nur vielfach nicht in gewünschter Richtung. Das zu akzeptieren, mehrt zwar nicht unbedingt Ihr Glück. Aber es mindert bestimmt das Unglück in Ihrer Paarschaft.

Man müsse sich zurücknehmen in einer Partnerschaft und stetig an ihr arbeiten, heisst es. Wahr oder nicht?
Halbwahr. Ich würde die notwendige Beziehungsinvestition anders formulieren. Meine Arbeit besteht darin, dass ich endlich einsehe: Ich bin eine Zumutung für dich. Nicht immer, aber immer öfter. Das sagst du mir zwar häufig, aber ich will es partout nicht hören. Ich will unbedingt meine weisse Weste anbehalten, rechtfertige und verteidige mich dauernd reflexartig. Herrgott, ist das langweilig!

Wenn das Beziehungsdebakel offenbar wird, neigt man bekanntlich dazu, die Partnerin, den Partner zu wechseln. Was ist schlimm daran?
Schlimm ist, dass ich meine offenkundige Unfähigkeit, auf Vorwürfe gut zu reagieren, naiv mitnehme in meine neue Liebesgeschichte. Damit starte ich in eine weitere Elendsrunde zu zweit.

Wann ist es besser, eine Beziehung zu beenden?
Sobald einer von beiden Partnern entscheidet, dass das Ende der Beziehung gekommen ist. Und sobald er das auch ausdrückt.

Nehmen Streit und Konflikte in langen Beziehungen eigentlich eher ab?
Nein, aber die Stummheit nimmt zu.

Wie oft merken Paare während der Beratung bei Ihnen, dass ihre Beziehung doch keinen Sinn mehr hat?
Es kommt tatsächlich nicht so selten vor, dass sich einer der Partner ein Herz fasst und wagt, die Liebe zu kündigen – nachdem er sich lange mit der Entscheidung herumgequält hatte. Auseinandergehen ist oft ganz genauso mühselig wie das Zusammenbleiben. Das macht die Entscheidung langwierig.

Wirklich wahr, dass Paartherapien zu 90 Prozent von Frauen initiiert werden?
Voll falsch! Seit ich vor 20 Jahren das Anmeldeprozedere digitalisiert habe, kommen die Initiativen genderneutral. Männer und Frauen mögen gut gemachte Internetseiten und unaufgeregte Anmeldungen gleichermassen. Und der Gang zum Paarberater ist inzwischen kein Stigma mehr. Auch nicht für Männer.

Wie eingangs erwähnt: Sie arbeiten seit über 45 Jahren als Paarberater. Haben wir heute mehr Beziehungsprobleme als früher?
Nein. Mit einem Menschen eng verbunden zu sein und zu bleiben ist seit eh und je eine beinah unwiderstehliche Herausforderung. Eine Grenzerfahrung, der praktisch niemand entgeht.

Das Interview wurde schriftlich geführt.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor