Dr. Klaus Heer

NZZ vom 14. September 2023
Stacks Image 93561

«Bei Untreue wird das Handy zur Tatwaffe»

Jedes Paar habe ein unlösbares Problem, sagt der Paartherapeut Klaus Heer im Gespräch mit Birgit Schmid. Es gebe keine glücklichen Paare. Auch nach einem halben Jahrhundert Praxiserfahrung bleiben Beziehungen ein Rätsel für ihn.

INTERVIEW: BIRGIT SCHMID
Klaus Heer, Sie arbeiten seit fast fünfzig Jahren als Paartherapeut. Was waren die Probleme von Paaren Anfang 1970er Jahre, und weshalb kommt man heute zu Ihnen?
Paare gibt es seit Tausenden von Jahren. Da sind meine fünf Jahrzehnte Paartherapeuten-Dasein ein Klacks. Veränderungen vermute ich nicht bei meinen Klientenpaaren. Viel deutlicher bei mir selbst.

Wie haben Sie sich verändert?
Ich habe weniger Angst vor den Paaren. Der Volksmund nennt das «Erfahrung».

Sie hatten zu Beginn Angst vor den Paaren, die zu Ihnen kamen?
Genau genommen war ich von Anfang an beeindruckt, ja erschreckt davon, wie kompliziert und komplex Beziehungen sind. Je mehr ich während meiner dreijährigen Zusatzausbildung zum Paar- und Familientherapeuten darüber erfuhr, umso unübersichtlicher wurde mir mein Beruf. Ich begriff mehr und mehr, dass ich bei meiner Arbeit schlicht überfordert war, immer wieder. Will heissen, der Fundus meines Fachwissens wuchs zwar stetig, aber noch weiter breitete sich das Brachland meines Nichtwissens in mir aus. So wurde die Angst meine ständige Assistentin.

War sie begründet? Wie oft hatten Sie das Gefühl, bei einem Paar gescheitert zu sein?
Klar, war die Angst realistisch. Die Angst bewahrt mich gleichzeitig vor krassen naiven Fehleinschätzungen. Ich glaube, wir verkennen und verharmlosen generell die Paarrealität, die wir vor uns haben. Niemand kann ins Innere einer Beziehung hineinsehen. Nicht einmal die beiden Partner selber – sonst wären sie wohl gar nicht hier bei mir. Es ist aber nicht dieser unwegsame Zugang zum Beziehungs-Inneren, der mich das Fürchten am gründlichsten gelehrt hat.

Sondern?
Zu fürchten habe ich vor allem meine Ideen, wie die beiden aus ihrer Misslichkeit herausfinden könnten. Wie die Lösung aussehen müsste.

Geht es konkreter?
Nehmen wir die Sexualität. Die Sexualität ist das steinigste, unwirtlichste Gelände einer Paartherapie, finde ich. Er will mit ihr schlafen, weil er sie «liebt». Sie «kann nicht», weil ihre Sexualität beziehungsklima-abhängig sei. Ist klassisch, nicht wahr? Seit fünf Jahrzehnten hirne ich dem Stein der Weisen hinterher. Das müsste doch nicht so schwierig sein. Scheint es. Mein Gott, was habe ich nicht schon alles vorgeschlagen! Ausprobieren lassen. Angestossen. Auch paradox interveniert, versteht sich. Das Ergebnis, unter dem Strich? Viel zu häufig Frust statt Lust. Bei uns dreien. Und bei mir speziell: eben die Angst vor dem Scheitern.

Ist die Lustlosigkeit im Bett oder, anders gesagt, die Ungleichzeitigkeit des Begehrens der häufigste Grund, weshalb Paare eine Paartherapie machen – damals und heute?
Nein. Die wenigsten Paare kommen hier herein, setzen sich hin und der Mann sagt sinngemäss: «Schön, dass wir da sind; seit wir zwei Kinder haben, ist unser Sexleben am Serbeln, helfen Sie uns bitte beim Sanieren.» Über Sex Reden ist nämlich in den letzten fünfzig Jahren nach meinem unmassgeblichen Eindruck nicht etwa lockerer geworden für ein Paar, das sich nahe und verbunden fühlt. Es ist vertrackt, sich und einander in ganzen Sätzen explizit einzugestehen: «Du, Schatz, mir ist schon lange nicht mehr wohl mit dir im Bett.» Die Turbothemen für einen Therapiestart sind viel eher Untreue, überfordernde Differenzen in der Kindererziehung, im Geldmanagement oder in der fairen Aufteilung der unbezahlten Arbeit im Haushalt zum Beispiel.

Dann läge also vielen heutigen Paaren der Zustand ihrer Sexualität gar nicht so am Herzen, wie man meinen könnte?
Ganz im Gegenteil! Der arterhaltende Schleimhaut-Sex gilt immer noch praktisch unbestritten als die dickste aller tragenden Säulen der Liebe.

Ist er das etwa nicht?
In den meisten Köpfen und zwischen den Beinen ja, sicher. Aber in der Realität – nein. Dort, im realen Leben zu zweit, ist sie ein Luxusgut. Kein Mensch – auch kein Mann – braucht sie unbedingt. Ausser Mann und Frau wollen ein Kind zeugen. Es gibt sogar ein paar Männer, die mit ihren «blauen Eiern» drohen, wenn sie sexuell zu kurz zu kommen glauben. In Frankreich vermögen diese «couilles bleus» tatsächlich immer noch Frauen zu ängstigen.

Das müssen Sie erklären.
Ich staune tatsächlich, wie viele Frauen noch heute, im 21. Jahrhundert, sich immerzu sorgen, dass sie ihrem Mann nicht ausreichend Gelegenheit bieten, sich sexuell zu entladen. Ich geb's zu, «entladen» klingt richtig widerlich. Und ich habe noch nie einen Mann sagen hören, dass er das will, wenn seine Frau es nicht freiwillig und mit Freude tut. Aber in den Köpfen vieler Frauen geistert dieses abstossende Gespenst aus der Vor-#MeToo-Zeit herum. Und sie reden nicht drüber. Erst wenn ich sie konkret danach frage.

Niemand brauche Sex, sagen Sie. Gleichzeitig lässt sich die Bedeutung der Sexualität nicht herunterspielen, auch wenn das heute versucht wird. Ein Paar, bei dem es nach Jahren noch eine starke Verbindung gibt, hat sich meist auch ein lebendiges Sexleben bewahrt. Oder?
Der Gedanke ist mir lieb und teuer, dass eine «starke Verbindung» genauso stark und verbunden sein kann, ob es nun ein «lebendiges Sexleben» gibt oder nicht. Ich erlebe seit Jahr und Tag, dass die Leute das «Liebe machen» wörtlich nehmen. Liebe darf keinesfalls vegetarisch sein. Sagt die herrschende Liebesnorm. Und schafft mit ihrer Strenge viel Mühsal in den Doppelbett-Laken.

Interessant, dass Sie von #MeToo auch im Ehebett langjähriger Paare sprechen. Demnach tut der Mann der Frau, die keine Lust hat, aber dies nicht zeigt, unwissentlich Gewalt an. Verhalten sich diese Frauen aus Angst so – weil sie befürchten, der Mann könnte sonst fremdgehen?
Die Angst, den Partner zu verlieren, vibriert eigentlich in jeder «Liebesbeziehung» mindestens im Hintergrund stumm mit. In der Liebe gibt es keine Sicherheit, sofern man einen minimalen Sinn für die gemeinsame Beziehungsrealität hat. Wenn also ein Mann seiner Frau «unwissentlich» sexuelle Gewalt antut, lebt er gefährlich. Denn er übersieht – das heisst, er weiss nicht, dass seine Frau nicht dazu da ist, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Und sie gefährdet die Liebe ebenso, indem sie vorgibt, sie habe nach dem Prinzip «Dienst nach Vorschrift» ausreichend «Lust», um den sexuellen Betrieb aufrecht zu erhalten. Das alles zeigt, welche Vormachtstellung die Sexualität im heutigen Verständnis von «Liebe» einnimmt.

Das verlangt nach einem Ratschlag aus der Praxis. Was empfehlen Sie einem Paar, das einander im Bett so erlebt?
Ich würde nur zu einem Rat-Schlag ausholen, wenn ich eine bestimmte Vorstellung im Kopf parat hätte, wie die Lösung des präsentierten Problems aussehen könnte. Ich muss gestehen, dass ich dieser Versuchung auch noch in meinem alttestamentarischen Alter manchmal erliege. Bin ich aber klar im Kopf, lass ich mich von meiner Neugier leiten und bin darauf aus, meine Klientenpaare in diese Neugier mitzunehmen.

Konkret?
Ich stelle offene Fragen wie: «Sie schlafen also nicht immer freiwillig mit Ihrem Mann?» Und ihn, den Mann, frage ich etwa: «Wollen Sie tatsächlich, dass Ihre Frau sich Ihnen auf diese Weise zur Verfügung stellt?» – Ich sage Ihnen: Jetzt
bleiben die Überraschungen nicht aus. Erkenntnisse und Einsichten sind viel mächtigere Treiber von Veränderungen als Ratschläge.

Ein Paartherapeut, eine Paartherapeutin helfe Paaren vor allem dabei, dass sie sich besser trennen könnten und nicht die ganze Beziehung in Scherben liege, heisst es. Stimmt das?
Nicht dass ich wüsste. Paartherapeuten sind höchstens im Nebenamt Scheidungsgehilfen. Allerdings ist meine Zunft noch viel weniger dazu da, Paarbeziehungen zu «flicken». Den Begriff «flicken» bekomme ich immer noch oft zu hören. Er geht von einer mechanischen Vorstellung von Beziehung aus. Hier ist etwas kaputt und muss repariert werden, bis es wieder «klappt».

Wo sehen Sie denn Ihre Aufgabe?
Es ist nichts kaputt. Die beiden brauchen eher jemanden, der sie ermuntert, das Offensichtliche zu sehen.

Und was ist hier offensichtlich?
Zum Beispiel macht einer dem anderen Vorwürfe. Dabei ist zweierlei evident: Vorwürfe macht jemand, der dringend seine Beziehung verbessern möchte. Und: viele Partner schaffen es nicht, dieses Anliegen des anderen zu hören; sie wehren sich und schiessen zurück. Jetzt haben sie Krach, die beiden. Streit heisst nichts anderes, als dass keiner wissen will, was ihm der andere unbedingt sagen möchte. «Streitkultur» ist ein klassisches Oxymoron, ein krasser Widerspruch in sich selbst. Wie «Eile mit Weile» oder «Ferien mit Kindern».

Wie oft kam es vor, dass einer der Partner aus Ihrer Praxis davongelaufen ist?
Lassen Sie mich schätzen ... Fünf, sechs Mal vielleicht. Allemal aus Verzweiflung, klar. Dann verabschiede ich mich sofort vom Zurückgebliebenen; ich arbeite ja nie mit einem Einzelnen. Und ja, es ist möglich, dass ich die beiden dann nie mehr sehe.

Als Therapeut sind Sie eine Projektionsfigur. Haben sich Frauen auch einmal in Sie verliebt?
Das kann sein. Aber wissen Sie, eine Paartherapie ist wahrlich nicht der Schauplatz der ausufernden Offenheit. Ein Paar bringt immer auch seine sorgsam gehütete Verschwiegenheit hierher mit. Und wenn sich einer der beiden in mich verlieben sollte, würde er das wohlweislich als sein Geheimnis behandeln. Überhaupt ist hier das Ausgesprochene das Thema, nicht die Privatsphäre des Einzelnen. Ich stimme Max Frisch zu: «Erst das Geheimnis, das Mann und Weib voreinander hüten, macht sie zum Paar.

Die Frage ist: Wann wird ein Geheimnis zwischen einem Paar zum Problem? Erst, wenn es enthüllt wird?
Ja, spätestens dann. Echt kritisch wird es aber bereits, wenn einer denkt oder zum anderen sagt: «Ich kenne dich doch inzwischen, nach zwölf Jahren Ehe!» Damit würgt er der Liebe die Luft ab.

Sie sehen Paare, wenn es kriselt. Kennen Sie aber auch die Geheimnisse einer langen, guten Ehe? Was hält Paare zusammen?
Diamantene Hochzeitspaare werden häufig von der Lokalpresse gefragt, was denn nun ihr Geheimrezept für 60 Jahre unverbrüchliche Ehe sei. Dumme Frage, lauter peinliche Klischee-Antworten! Ehrlich: Woher soll ich wissen, was Paare jahrzehntelang zusammenhält? Jede Paarschaft – feine Wortschöpfung von Max Frisch – ist ein Abenteuer. Ein Abenteuer kann man nur leben. Und bestaunen. Keinesfalls aber sezieren.
Kamen oder kommen auch über 70-jährige Paare zu Ihnen? Und was für Probleme hat man in diesem Alter miteinander?
Die Mehrzahl meiner Klientenpaare ist über die Jahrzehnte mit mir zusammen gealtert. Ich mag gestandene Paare. Mit ihnen kann ich tapferer und effizienter darüber reden, dass wir alle drei auf der Zielgeraden zum Krematorium laufen oder hinken. Und ob wir jetzt wirklich den mürben Rest unserer Lebenszeit mit Kopflosigkeiten wie bösartiger Kritik, zwanghafter Kleinlichkeit und langweiligem Zoff verplempern wollen. Dabei hilft mir mein Hang zu schwarzem Humor.

Was war die längste Paartherapie, die Sie je gemacht haben?
Etwas über 19 Jahre. Ich war erklärtermassen und freiwillig Teil des Problems, weil es keine Lösung gab. Bis der Mann das Zeitliche segnete.

Ist es manchmal schwierig, ein Paar gehen zu lassen, zu dem sich eine Vertrautheit entwickelt hat?
Nicht wirklich. Ich pflege meine eigenen Vertrautheiten in meiner eigenen Partnerschaft und mit Freunden. Aber wenn ich ein Paar zum Beispiel nach Jahren wiedersehe, freut mich das. Ich sehe es ganz neu.

Wenn mir recht ist, waren Sie selber 30 Jahre verheiratet und haben nun seit einigen Jahren eine neue Partnerin. Hilft Ihnen Ihr Wissen als Paartherapeut in Ihren Beziehungen?
Ja, meine Ehe hat 31 Jahre gedauert; sie hat mir zwei Töchter geschenkt. Und vier Enkelkinder. Seit zwanzig Jahren bin ich jetzt mit einer neuen Lebensgefährtin verbunden. Die letzten fünf Jahrzehnte haben mich nicht nur alt gemacht, sie haben mich auch regelrecht ausgenüchtert. Bitte verwechseln Sie diese Ernüchterung nicht mit Resignation. Ich habe bloss den Ballast belastender Erwartungen abgeworfen. So lebt und liebt es sich leichter.

Wenn es einen selber betreffe, helfe auch das psychologische Fachwissen nicht weiter – so hört man oft. Können Sie Ihre Erfahrungen tatsächlich positiv nutzen in Ihrer Partnerschaft? Und gehen Sie souveräner um mit Eifersucht, Enttäuschungen oder Wut?
Natürlich, ein Beziehungs-Dilettant bin ich seit längerem nicht mehr. Ich weiss zum Beispiel, wie entbehrlich Zank und Zwist zu zweit sind. Und ich kenne die Tools, die ein friedliches Zusammenleben möglich machen. Aber ich habe schmerzlich erfahren müssen, dass auch meine Paarschaften jedes Mal bis hart an ihre, an meine Grenzen gerieten. Einmal sogar darüber hinaus. Warum? Jede Beziehung ist konfrontiert mit einem unlösbaren Problem. Das kann man unmöglich lösen, man
muss es tragen. Möglichst gemeinsam. Hierin bin ich nicht besonders stark. Noch nicht.

Auch Sie können noch ein besserer Ehemann werden?
Nein. Keine Lust, ein «besserer Ehemann» zu werden. Ist mir zu langweilig. Meine Frau und ich sind nämlich dabei, gemeinsam zu klären, wie wir die Last des unlösbaren Problems zusammen tragen können.

Was ist ein häufiges unlösbares Problem – damit es anschaulicher wird?
Drei Beispiele: Mann und Frau haben sehr unterschiedlich ausgeprägte sexuelle Bedürfnisse. Oder: die beiden leben in diametral entgegengesetzten Denkwelten. Oder: die Frau ist verbal extrem viel produktiver und differenzierter als der Mann.

Die Frau will reden, der Mann mauert: Nichts Neues von der Geschlechterfront. Sind Sie ernüchtert nach all den Jahren, wie sich Frauen und Männer in manchem Verhalten eben doch unterscheiden, obwohl das Bemühen gross ist, Geschlecht als Konstrukt zu sehen und Unterschiede zu negieren?
Mich interessieren die laufenden geschlechtertheoretischen Debatten nicht. Ich wundere mich vielmehr ganz konkret, wie viele Männer sich zu einem Beziehungsmuffel stauchen und dann dafür beschimpfen lassen – von ihrer Frau, die sich für die inkarnierte Beziehungsfähigkeit hält. Bitte, ich bin immer dabei und hör’s mit eigenen Ohren! So sind heute die Waffengattungen im Machtkampf zwischen Mann und Frau aufgestellt: Der verstopfte emotional begriffsstutzige Mann
gegen seine verdrossene selbstgerechte Frau. Ausgang: ewiges Patt.

Sind Liebesformen wie die offene oder polyamouröse Beziehung zwischen Ihren Paaren ein Thema, probieren dies mehr Leute aus als auch schon?
Die stabile Monogamie hat es mit der Monotonie, diesem ehelichen Weichteilrheuma, zu tun. Für Paare, die noch nicht scheintot sind, ist das schmerzhaft. Sie versuchen manchmal, dem schleichenden Elend zu entkommen und erweitern beherzt ihr Liebespersonal. Egal, ob es sich um die «Offene Ehe» von 1972 oder um internetgestützte Ausbruchsversuche von heute handelt. Meine Rolle ist regelmässig die eines Sanitäters, der sich um die Opfer der hochriskanten Suche nach Glücksalternativen kümmert.

Müssen solche Versuche also scheitern?
Meistens.

Wäre eine andere Glücksalternative die zeitlich begrenzte heimliche Affäre?
Ich kenne niemanden, der ausreichend begabt wäre für eine solche Variante.

Sie bekommen das vielleicht nicht mit, denn wenn es nie auffliegt, wird auch keine Paartherapie nötig.
Wenn es dann doch auffliegt, finde ich mit dem verstörten Paar heraus, was nötig gewesen wäre, damit es nicht aufgeflogen wäre. Das ist erhellend.

Wie meinen Sie das? Sogar den Betrogenen wäre lieber, sie hätten nichts erfahren?
Ja, manchmal ist das wirklich so. Aber ich wollte sagen, dass klandestine Untreue ein fast unerreichbares Kunststück ist. Der häufigste verräterische Stolperstein ist das Handy.

Mit dem Handy sind abwesende Dritte oder Vierte anwesend, Sie haben das einmal Beziehungsquartett aus zwei Menschen und zwei Geräten genannt. Was macht dieses kleine Ding so gefährlich, haben Sie ein Beispiel?
Wenn etwas mit Untreue läuft, ist fast immer das Mobiltelefon beteiligt, als Komplize, als Tatwaffe gewissermassen. Mit dem «kleinen Ding» lässt sich logistisch viel effizienter fremdgehen. Aber der «Betrug» wird ebenso häufig auch mit Hilfe des Handys enttarnt. Das Natel ist bei vielen Leuten, die sich lieben, noch nicht als Teil der Privatsphäre definiert. Somit ist das omnipräsente Gerät eben doppelt gefährlich.

Was halten Sie von der Theorie der amerikanischen Paartherapeutin Esther Perel, die sagt: Auch glücklich verheiratete Leute hätten Affären, ohne dass dies Symptom einer Ehekrise wäre. Die Treulosen wollen sich nicht trennen, sondern sehnen sich nach dem verpassten Leben und der Person, die sie auch noch sein könnten. Hat sie recht?
Hat sie. Klüger kann man das nicht beschreiben. Ich mahne auch immer zur Vorsicht: Niemand ist sicher vor dem Ehebruch. Weder die «glücklichen» Ehen noch die unerschütterlich Treuen. Aber das nimmt man mir gewöhnlich nicht ab.

Warum setzen Sie «glücklich» in Anführungsstriche?
Ich zitiere das Wort ja aus Ihrer Frage. Ich habe keine Ahnung, was Sie oder Frau Perel sich unter «glücklich verheiratet» vorstellen. Meine emotionale Fantasie versagt hier. Nicht etwa, weil ich nur «unglückliche Ehen» sehe. Ganz im Ernst: Glückliche Ehen gibt es nicht. Wohl aber Paare, die manchmal glückliche Augenblicke kosten und geniessen.

Das klingt ernüchternd, würde aber eine These bestätigen, von der man häufiger hört: Jüngere Leute würden der romantischen Zweierbeziehung vermehrt entsagen.
Ach, davon weiss ich nichts. Das glaube ich auch nicht. Ich gehe eher davon aus, dass die ganz grosse Liebe für die meisten Menschen eine überwältigend anziehende Idee ist. Nach wie vor. Sogar mehr denn je. Nicht nur für die Alten. Fast alle folgen – befeuert von einem breiten kulturellen Konsens – mit Begeisterung dem Sog dieser zweisamen Glücksverheissung.

Die romantische Zweisamkeit wird also überleben?
Ja, zweifellos! Sie ist Teil der verschwenderischen Vielfalt des Lebens. Man könnte sich aber gelegentlich mit Gewinn daran erinnern, dass unrealistische Konzepte böse enden können. Politisch und privat. Stichwort Kommunismus oder eben Scheidung. Utopie vergammelt leicht in Dystopie. – Ach, ich wollte nicht predigen. Offenbar kann ich’s nicht ganz lassen.

Warum wurden Sie Paartherapeut?
Als Kind wollte ich Priester werden. Oder besser, ich hätte Priester werden müssen. Als mir der Kinderglaube abhandenkam, war die säkulare Psychologie die naheliegendste Alternative. Und ich wollte nicht wie fast alle meine Kollegen ein breitgefächertes Therapie-Angebot bereitstellen, sondern eine enge Spezialisierung: eben Paartherapie exklusiv. Schon Jahre vor meinem Gymnasiums- Abschluss stand das für mich felsenfest. Meine Berufsentscheidung hatte also nichts mit der Ehequalität meiner Eltern zu tun. Ich spürte null Drang, ihre Ehe zu retten.

Jetzt, mit bald achtzig, arbeiten Sie immer noch. Denken Sie je ans Aufhören?
Nein. Ich liebe meinen Beruf und meine Klientenpaare zu sehr. Meine fünfzig Therapeutenjahre haben mich kein bisschen schlapp und überdrüssig gemacht. Aber ich habe mein Arbeitspensum jetzt dennoch drastisch gekürzt; es gibt viel in meinem Leben, das mich auch noch entzückt. Und insgeheim liebäugle ich mit einem Abgang im Stil von Mister Swatch, Nicolas Hayek: Mit 82 verabschiedete er sich schlicht mitten in einer Verwaltungsratssitzung, legte seinen Kopf einfach auf den Tisch, und weg war er.

Klaus Heer arbeitet seit 1974 als Paartherapeut in eigener Praxis in Bern. Er schrieb erfolgreiche Sachbücher wie «Ehe, Sex & Liebesmüh’» und «Paarlauf. Wie einsam ist die Zweisamkeit?» und war für das Schweizer Radio DRS Autor vieler Sendungen über Paare und Beziehung. Dieses Jahr wird er achtzig.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor