Dr. Klaus Heer

GlücksPost 28/2024
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«Lieben heisst, sich mit der Wirklichkeit begnügen»

Er ist der bekannteste Paar-Therapeut der Schweiz: Der Psychologe und Sachbuchautor Klaus Heer (81) erklärt, weshalb Menschen im Alter anders lieben.

INTERVIEW: DOMINIK HUG
GlücksPost: Liebt man im Alter anders als in jungen Jahren?
Klaus Heer: Natürlich. Stellen Sie sich vor, Sie entwickeln sich in Ihrem Leben, werden klüger und erfahrener – nur in Liebesdingen bleiben Sie stehen wie ein vertrockneter Teenager. Man wäre eine Karikatur seiner selbst.
 
Was entfaltet sich denn im Lauf der Jahre so eindrücklich?
In den letzten Lebensjahrzehnten verlieren die meisten Menschen jede Menge Illusionen. Sie lernen, ob sie wollen oder nicht, ihre überrissenen Glückserwartungen zurückzuschrauben. Jede Erwartung an die Liebe oder an einen Partner, eine Partnerin macht einen unglücklich. Aber älter werdende Menschen begreifen langsam: «Lieben heisst, sich mit der Wirklichkeit begnügen.» So klug hat es der polnische Schriftsteller Stefan Napierski formuliert.
 
Konkret: Auf welche Wirklichkeit sollte man achten, wenn man im Alter eine Beziehung eingeht?
Es kann zum Beispiel sein, dass Sie sich im Alter einsam fühlen und aus diesem Grund eine Beziehung suchen. Wenn man nüchtern überlegt, erkennt man, wie schwer Einsamkeit zu zweit ist. Man sollte also nicht in diese Falle tappen. Zweisamkeit heilt die Einsamkeit des Einzelnen nicht. Jedenfalls nicht auf Dauer.
 
Woran ist eine «reife» Beziehung zu erkennen?
In einer reifen Beziehung gibt es eine Partnerin, einen Partner, der über ein funktionierendes Gehör verfügt. Ich denke jetzt nicht an ein teures Hörgerät. Eher an die Fähigkeit, zu hören, was der andere sagt – vor allem, wenn er oder sie etwas Unangenehmes sagt. Reif ist meine Liebe dann, wenn ich Vorwürfe des anderen hören will und kann, ohne mich zu rechtfertigen oder zurückzuschlagen. Das ist ganz hohe Liebeskunst.
 
Wie sollte man mit den veränderten körperlichen Bedürfnissen umgehen?
Die Alterssexualität hat die grössten Glückschancen, wenn man einander berührt. Nicht streicheln, nicht erregen wollen, nicht miteinander schlafen wollen. Ganz einfach berühren. Beim draussen Hand-in-Hand-Gehen etwa. Oder beim Netflix-Schauen nebeneinander. Oder beim Einschlafen. Was für ein Glück!
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor