Dr. Klaus Heer

Nau.ch vom 15. November 2024
Stacks Image 88380

Paarberater warnen: Fremdgehen nicht zu früh verzeihen!

Schweizerinnen und Schweizer gehen am häufigsten fremd. Die Bereitschaft zu verzeihen ist aber auch gross. Paarberater klären auf.

VON RICCARDO SCHMIDLIN
Das Wichtigste in Kürze

  • Laut einer Studie sind Schweizer Spitzenreiter bei der Untreue.
  • Die Hälfte davon kann einen Seitensprung verzeihen – aber zu früh kann problematisch sein.
  • Ein Seitensprung kann die Bindung stärken – aber es braucht Zeit und Geduld.
Diese Studie sorgt für Aufsehen: Fast ein Drittel der Schweizerinnen und Schweizer war schon einmal untreu. Damit ist die Schweiz im globalen Vergleich Spitzenreiterin bei der Untreue. Das zumindest hat eine Yougov-Studie im Auftrag des Seitensprung-Portals Ashley Madison ergeben.

Brisant sind nicht nur die Gründe fürs Fremdgehen (wie sexuelle Nicht-Befriedigung oder Langeweile), sondern auch das: 50 Prozent der Befragten sagten, sie können ihrem untreuen Partner oder ihrer untreuen Partnerin verzeihen. 56 Prozent wären sogar bereit, Untreue bei einer ihnen bekannten Person zu vergeben!

Doch: Das Verzeihen kann auch zum Problem werden, warnen Experten. Besonders dann, wenn es zu früh erfolgt.

Salome Roesch berät Paare bei Paarberatung und Mediation im Kanton Zürich. Sie sagt zu Nau.ch: «Verzeihen ist dann problematisch, wenn danach erneut Vorwürfe oder Schuldzuweisungen gemacht werden.»

Sie erklärt: «Vielleicht wurden die Gefühle der verratenen Person zu wenig ernst genommen durch die Person, die den Verrat beging.» Die Gefahr: «Für die Person, der verziehen wurde, entsteht das Gefühl, sie kann machen, was sie will, und es reicht doch nicht.»

Eine Wiedergutmachung sei dann nicht möglich oder hoffnungslos, so Roesch. «Dies zermürbt die Beziehung und kann auf eine Trennung herauslaufen.»

«Vertrauensbruch ist nicht ungeschehen, aber ...»
Doch eine Vergebung ist keinesfalls nur negativ. «Vergebung ist ein persönlicher Prozess der betrogenen Person, ihre freiwillige Entscheidung, auf Rache und Ausgleich zu verzichten.» Der Fremdgänger oder die Fremdgängerin übernimmt dabei die Verantwortung – auch eine Wiedergutmachung könne hilfreich sein.

«Der Vertrauensbruch ist nicht ungeschehen, aber verarbeitet», sagt Roesch. «Dadurch wächst die Verbindung.»

Und das braucht Zeit!

«Wenn Paare akzeptieren, dass der Seitensprung zu ihrer Biografie gehört, kann tiefes gegenseitiges Verständnis auf der emotionalen Ebene entstehen. Vergebung kann nicht unmittelbar nach dem Vertrauensbruch erfolgen. Es braucht Zeit, Geduld und Ausdauer.»

Auch der Berner Paartherapeut Klaus Heer warnt davor, nach einem Seitensprung stillschweigend zur Tagesordnung überzugehen. «Für viele Paare wiegt sexuelle Untreue schwer», sagt er zu Nau.ch.

«Es ist oft nicht bloss ein kleiner Lapsus, sondern wer fremdgeht, macht sich schuldig. Und Schuld ruft nach Verzeihen.» Ein karges «Sorry» reiche da nicht aus.

«Eine aufgerissene Wunde braucht viel Aufwand, damit sie heilen kann», sagt Heer. «Und zwar von beiden Partnern.»

«Liebe ist lebendiges Abenteuer mit ungewissem Verlauf»
Auch er bestätigt, dass eine Untreue-Erfahrung zwei Menschen auf neue Weise verbinden kann. «Sie stellen staunend fest, dass ihre Liebe viel tragfähiger und belastbarer ist, als sie sich das bisher gedacht haben. Sie erleben: Die Liebe ist kein Zuckerschlecken, sondern eher ein lebendiges Abenteuer mit ungewissem Verlauf.»

Und er mahnt: «Wenn man einander nicht vergeben kann, wird man nachtragend und unglücklich.»
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor