Dr. Klaus Heer

Bluewin-Magazin vom 16. April 2018
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«Viele Frauen sind im Bett unter Zugzwang»

Der bekannte Berner Paartherapeut Klaus Heer über Probleme in den Schweizern Schlafzimmern, Gewalt von Männern und die aktuelle Sexismus-Debatte #MeToo.

INTERVIEW: BRUNO BÖTSCHI
Bluewin: Herr Heer, auf den Weinstein-Skandal in den USA folgt der Aufschrei. Auf den Aufschrei folgt die Sexismus-Debatte mit dem Hashtag #MeToo. Was haben Sie als langjähriger Paartherapeut in Ihren Beratungsstunden davon mitbekommen?
Klaus Heer: Für mich ist das nichts Neues. Aufschrei und #MeToo in den trauten vier Wänden sind stillschweigend aktuell seit eh und je.

Es hat sich seit dem Weinstein-Skandal also nichts verändert in Ihren Beratungsstunden?
Doch, doch! In meinem Kopf hat es «klick» gemacht.

Das müssen Sie erklären.
Ich habe auf einmal begriffen, dass wir dazu neigen, Gewalttätigkeit und Schwäche zu exportieren, ohne es zu merken. Sexualisierte Gewalt bekommt prominente Gesichter und Namen weit weg von hier. Und die Opfer erheben ihre entrüsteten Stimmen. Hier indes, in unseren privaten Behausungen, wo es keine Zeugen gibt, bleibt es stumm wie ehedem. Wie seit Jahrhunderten, um genau zu sein.

Übersetze ich Ihre Antwort richtig: Sie meinen, es gibt auch unter den Schweizer Männern viele «Weinsteins»?
Viele Weinsteinleins im diskreten Flachmannformat, sag ich mal. Keine Rede von ehelicher Vergewaltigung natürlich; die ist ja seit 1992 strafbar, seit 2004 sogar ein Offizialdelikt. Kein anständiger Mann nötigt seine Frau zu irgendetwas im Bett oder im Auto. Aber ... (überlegt) Wenn sich zwischen einem Mann und einer Frau, die schon länger zusammengehören, etwas Fleischliches abspielt, sind die beiden häufig nicht nur zu zweit. Ein Dritter spielt mit: der Druck. Die Frau fühlt sich unter Druck. Gelegentlich auch der Mann.

Führt dieser Druck dazu, dass Grenzen überschritten werden, respektiv die Frau Dinge im Schlafzimmer tut, die sie danach bereut?
Genauso ist es.

Geht es bitte noch etwas konkreter?

Mehr Frauen als man vermuten möchte, sehen sich dauernd in der Situation, dass sie weniger Sexlust haben als ihre Männer. Oft auch gar keine. Das ist in doppelter Hinsicht misslich für die Frau. Erstens weil sie mit Folgen rechnen muss, wenn sie sich weigert. Und zweitens weil sie sich nicht wie die asexuelle Frau fühlt, als die sie ihr Mann ausdrücklich oder indirekt definiert.

Von welchen Folgen sprechen Sie? Sexuelle Gewalt im sozialen Nahbereich gilt als besonders traumatisierend.
Ich rede nicht von brutaler sexueller Gewalt in den eigenen vier Wänden. Ortsüblich ist eher die vielsagende stumme Übellaunigkeit im Moment der «Zurückweisung» und in den Stunden und Tagen, die darauffolgen. Vernehmliches Schnaufen, ruckartiges Abdrehen oder türenschlagendes Auswandern ins Gästezimmer zum Beispiel. Was als Ausdruck von immer sich wiederholender Enttäuschung gemeint ist, kommt als Druck an, beinahe als dumpfe Nötigung. Daraus wird ein kränkendes Missverständnis, wenn
die beiden es nicht rechtzeitig gesprächsweise auflösen können ...

... oder bei Ihnen in der Beratung landen.
Hier in meiner Praxis bekomme ich mit, dass viele Frauen diesem Druck nicht gewachsen sind.

Die Frau als das schwache Geschlecht? Also bitte, Herr Heer, das ist doch so ewiggestrig.
Es kollidiert offenbar mit Ihrem Weltbild, wenn ich Ihnen erzähle, wie ich immer wieder verwundert feststelle, dass die Emanzipation vieler Frauen an der Doppelbettkante hängen bleibt. Fast ganz unabhängig davon, wie stark sie sind. Und wie alt.

Im Bett können also manche Frauen nicht wirklich Nein sagen?
Genau. Und zwar nicht nur, weil ihre Männer sie so heftig bedrängen würden, sondern vor allem weil die Frauen sich selbst so schwer unter Druck setzen. Allen emanzipatorischen Anstrengungen zum Trotz sehen sich viele Frauen immer noch im Zugzwang:
Ich sollte, ich müsste doch, ich kann doch jetzt nicht ... Er hat so viel Lust, ich darf ihn damit nicht sitzen und liegen lassen. Er will mir seine Liebe zeigen und ich weise ihn immer wieder zurück, das geht doch nicht. – Was für ein entwürdigendes Elend! Im 21. Jahrhundert. Hier bei uns in Westeuropa.

Was tun Sie gegen dieses Elend? Was antworten Sie als Paartherapeut diesen Frauen?

Ich frage den Mann, ob er damit leben könne, seine Frau derart unter Druck zu sehen.

Und was sagen Sie der Frau?
Sagen Sie Ihrem Mann, wie eingeklemmt Sie sind im Bett. Und wie es kam, dass Sie sich in die Lustlosigkeit verkrochen haben, um dem Dilemma zu entfliehen. Ich ermutige also beide, einander zu schildern, wo und wie sie feststecken.

Es braucht immer zwei, um ein Ehe-Problem zu lösen.
Ja, es braucht zwei, um ein Problem gemeinsam zu tragen, das im Moment unlösbar erscheint. Das heisst: Der Mann kann versichern, dass er nicht mit seiner Frau schlafen will, die das nicht will oder nicht kann. Und die Frau wird ausdrücklich zusichern können, dass sie künftig keinem Druck mehr weichen wird, lustlosen Sex zu haben, egal, ob der Druck aus ihrem Inneren oder von ihrem Mann kommt. Damit haben die beiden gemeinsam der häuslichen Prostitution einvernehmlich ein Ende gesetzt. Ein Neustart ist geschafft!

Lieber Herr Heer, ich kann nicht glauben, dass ein derart grosses Ehe-Problem so schnell aus der Welt geschafft werden kann.
Nichts soll ruck, zuck aus der Welt geschafft werden, lieber Herr Bötschi! Ein neuer Anfang ist fällig. Statt sich gegenseitig zu beschimpfen als «frigid», beziehungsweise «sexsüchtig» – was für eine unerotische Szene! – könnten die zwei ihren Beziehungsalltag sorgfältig nach Berührungen absuchen, die seit ihrer Verliebtheit bis heute überlebt haben. Diese rituellen und gewohnheitsmässigen Haut- und Tuchfühlungen sind ein anregendes Paarthema. Sie lassen sich nämlich bewahren und ausbauen. Mit der Zeit.

Kann man auch zu viel über Sex reden?
Wenn niemand zuhört, ist jedes Wort zu viel. Wenn endlos geredet wird, liegt beiderseitige Taubheit nahe.

So grundsätzlich: verschlechtert oder verbessert sich das Zusammenleben von Frauen und Männern gerade?
Bestimmt sind in letzter Zeit Verunsicherung und Hilflosigkeit mehr und mehr ins Innere der Beziehungen vorgedrungen. Alles redet davon, dass sich Frauen immer weniger bieten lassen. #MeToo ist seit Monaten ein Hype. Ganz im Unterschied zur diskreten Paarwirklichkeit zu Hause. Dort gibt es entweder stumpfe Stummheit oder aussichtslose Wortgefechte. Beides ist ungemütlich. Aber im letzten halben Jahrhundert hat sich der Stand der Beziehungsgemütlichkeit nicht wesentlich verändert, scheint mir. Zusammenleben war noch nie spesenfrei.

Verstehe ich Sie richtig: Sie glauben also, dass die aktuelle Sexismus-Debatte in den Schweizer Schlafzimmern nicht viel verändern wird?
Bisher war das eben nicht das Thema. Weder öffentlich noch hinter den privaten Vorhängen.

Was müsste dann Ihrer Ansicht nach passieren, dass es am Küchentisch nicht weiter stumm bleibt? Müssten die meisten Schweizer Ehepaare eine Therapie machen?
Nein, danke. Es ist viel einfacher. Frau und Mann müssen endlich dafür sorgen, dass sie horizontal im Bett genauso auf gleicher Augenhöhe sind, wie sie einander vertikal gegenüberstehen. Konkret: Beiden muss es voll wohl sein, wenn sie sich sexuell nahe kommen. Wenn nicht, hilft nur ein unmissverständliches Nein.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor