Dr. Klaus Heer

Das Schweizer Elternmagazin vom Juli/August 2019
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«Die meisten offenen Beziehungen halten dem Stress nicht stand»

Wie überlebt man als Paar im hektischen Familienalltag und kommt sich nicht abhanden? Wie wichtig ist Sexualität? Und geht Liebe ohne Sex? Der Berner Paartherapeut Klaus Heer warnt vor übertriebenen Erwartungen in einer globalisierten Welt, in der alles möglich scheint.

INTERVIEW: ALMA PFEIFER
Herr Heer, eine Paarbeziehung auch nach Jahren des Zusammenlebens mit Kindern lebendig zu halten, ist eine grosse Herausforderung. Wie kann man sich selbst, dem andern als Paar und als Familie gerecht werden?
Sie fahnden nach dem ultimativen Geheimrezept für eine beglückende Liebe. Mit Ihrer Fahndung aber ver­raten Sie sich: Sie sind dem Main­stream zu Diensten. Unsere gesamte Kultur ist voll von paradiesischen Liebesvorstellungen. Die Leute hegen übereinstimmend die fixe Idee, ständig zu kurz zu kommen. Wie ein Kind, das man mit zwei, drei Jahren auf einer einsamen Land­strasse ausgesetzt hat. Einzig die ganz grosse Liebe könnte das riesige Manko in ihrer Brust auffüllen. Das ist die fundamentale Täuschung, die immerfort neue Enttäuschungen produziert.

Was also kann man tun, um sein eigenes Paarschicksal günstig zu beeinflussen?
Eine Beziehung ist eine Gestaltungs­aufgabe. Häufig heisst es an dieser Stelle, man müsse «miteinander reden». Diese Empfehlung ist genau­ so saftlos wie kontraproduktiv. Denn reden, das wollen und können alle – auch die vielen Männer, die als verstopft und mundfaul gelten. Es klemmt aber ganz woanders: Nie­mand will hören, was der andere sagt, sobald es nicht übereinstimmt mit den eigenen Ideen. Und sobald man sich angegriffen fühlt. Damit wird es vollkommen unmöglich, die notwendigen Kurskorrekturen in der Beziehung einzuleiten und durchzu­ziehen. Die Liebe erstickt langsam an den eigenen Störungen und am Mangel an überlebensnotwendigen neuen Impulsen.

Was heisst das?
Liebe und Sexualität sind auf kon­kreten Austausch angewiesen. Es genügt nicht, Vermutungen darüber anzustellen, was die Ursache der Stö­rungen im Bett sein könnte. Die meisten intellektuellen Vermutun­gen und Erklärungen für sexuelle Beklemmnisse sind falsch und Teil des Problems, denn sie sind es, die eine Lösung behindern und verhin­dern.

Was raten Sie konkret einem Paar, das zu Ihnen in die Praxis kommt, weil sein Sexleben eingeschafen ist?
Das Sexleben kann nicht «einschla­fen», es ist nur scheintot. Das Paar hat vielmehr seine Sexualität auf Eis gelegt. Warum? Weil sie nicht mehr den Vorstellungen entspricht, die sich die beiden von ihr machen. Die­se Vorstellungen stammen entweder aus der längst verflossenen Verliebt­heitszeit oder aus der allgegenwärti­gen Pornowelt. Und mein Ratschlag für die beiden? Ich ermutige sie, genau nachzusehen, welchen Körperkontakt sie konkret durch ihre schwierigen Zeiten bis heute gerettet haben. Dieser lässt sich nämlich ent­falten und fruchtbar machen.

Wie geht das konkret?
Das gilt es zu entdecken, ganz kon­kret neugierig und schöpferisch aktiv. In der Paartherapie unterstüt­ze ich das Paar, über die einfache Frage nachzudenken: Wie können wir uns körperlich wieder nahekom­men – ohne Sorgen und ohne Stress und ohne Angst?
Was, wenn die gegenseitigen Vorstellungen von Sex über die Jahre derart auseinandergegangen sind, dass sie im Bett nicht mehr zusammenfinden?
Ich komme, ehrlich gesagt, oft aus dem Staunen nicht heraus! Die Sexualität, das Kernland der Liebe, verwandeln viele Paare in regelrech­te Kriegsgebiete. Sie machen sich Vorwürfe, bezichtigen sich der Ver­nachlässigung, beklagen genervt ihre sexuelle Unterversorgung, stellen strikte Forderungen, drohen mit drastischen Vergeltungsmassnah­men. Das Paar muss sich wirklich entscheiden, ob es sich dem Macht­kampf widmen oder sorgfältig nach der Schnittmenge seiner Bedürfnis­se suchen will. Beides geht nicht.

Wie lautet Ihr Lösungsansatz?
Überlegen Sie und reden Sie mitei­nander liebevoll, aber auch hartnä­ckig, wie Sie es zustande bringen können, dass Ihnen beiden im Bett beim Sex wohl ist. Ja, wohl! Nichts weiter als wohl. Es geht nicht, ohne miteinander zu reden und einander zu hören. Zuhören vor allem. Den Gehörgang zu öffnen, das Herz zu öffnen und hinzuhören.

Ist es ratsam, die Beziehung zu öffnen und das Sexleben auszulagern?
Das Sexleben «auslagern» ist eine bestechende Idee in einer globali­sierten Welt. Es könnte vielleicht auch wirklich funktionieren. Nach meiner Schätzung allerdings erst in 200 bis 250 Jahren. Bis dahin reagie­ren unsere Herzen immer noch wie eh und je, wenn wir unsere Liebe «öffnen»: Sie verkrampfen sich, es tut weh, macht Angst.

Wann kann das Modell der offenen Beziehung vor einer Scheidung retten?
Die meisten Beziehungen halten dem Stress nicht stand. Es ist nicht zu erwarten, dass diese Öffnung eine Beziehung zu «retten» vermag. Ganz im Gegenteil.

Was müsste passieren, damit eine offene Beziehung funktionieren kann? Das weiss ich nicht. Bisher habe ich nur einschlägige Einzelschicksale zu Gesicht bekommen. Die meisten derartigen Beziehungsexperimente gingen schief. Meine Aufgabe ist es für gewöhnlich, bei der Schadensbe­grenzung mitzuwirken. Mir fällt auf, dass ausgewählte Erfolgsstorys gerne in der Presse platziert werden. Und das seit fast fünfzig Jahren. Doch die Werbewirksamkeit dieser Geschich­ten ist bescheiden. Die Projekte scheitern offensichtlich an der Innenarchitektur unserer Herzen: Die Eifersucht wacht unerbittlich über unsere Liebe, ob wir wollen oder nicht. Als besonders belastend er­weist sich die Tatsache, dass die bei­den Partner sich selten einig sind in den entscheidenden Fragen: Wie wollen wir die Öffnung konkret leben und wie handhaben wir die Aussenkontakte? Gewöhnlich wach­sen sich diese Unterschiede zu schweren Konflikten aus, unter denen dann auch die Kinder zu lei­den haben.

Wie sollen Eltern, sofern sie sich über eine offene Beziehung einig sind, dies ihrem Kind kommunizieren?
Wenn ein Paar als Pionierpaar eine offene Beziehung lebt und dabei ein gutes Gefühl hat, braucht es keinen Rat von aussen – ganz einfach, weil es den nicht gibt. Es ist der eigene Mut, der ihm die Energie verschafft, sich abseits der sozialen Trampelpfa­de zu bewegen. Besonnen und gleichzeitig beherzt leben, das ist leidenschaftliches Leben. Dabei muss klar sein: Leidenschaft ohne Leiden ist, wie der Begriff sagt, undenkbar. Aber auch das könnten solche speziellen Eltern in kindge­rechter Form dem Kind vermitteln.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor