Schweiz am Wochenende vom 7. September 2019
«Zu dir oder zu mir?»
Die obige Frage stellen sich heute auch ältere Paare. Sie leben öfters getrennt, um ihre eigenen Bedürfnisse ausleben zu können.
VON SABINE KUSTER
VON SABINE KUSTER
Er würde gern mit ihr zusammenziehen und sie am liebsten auch noch heiraten. Sie sagt: «Es reicht mir, wenn wir zwei-, dreimal in der Woche abends gemeinsam kochen und beieinander übernachten.» Sie ist 53 Jahre alt, die Kinder erwachsen, seit zwei Jahren neu verliebt. Sie sagt, die schönste Zeit ihres Lebens sei immer jene gewesen, in der sie allein gewohnt habe. «Ich habe das viel zu wenig gemacht.» Deshalb will sie nicht bei ihrem neuen Partner einziehen und auch nicht, dass er bei ihr einzieht. «Ich bin eine treue Seele, aber eine unabhängige», sagt sie.
Die 53-jährige Grafikerin mag eine unabhängige Seele sein, doch selten ist es längst nicht mehr, dass Paare in der zweiten Lebenshälfte getrennt wohnen. Der englische Fachbegriff dafür: «Living apart together». Jüngere Paare tun das meist, weil sie noch Karriere machen und weit entfernt wohnen oder weil sie polyamourös leben wollen. Bei älteren Paaren hat Getrenntwohnen viel mit den Umständen des Alters zu tun. Und mit der heutigen Zeit.
Die Vorteile des Singlelebens plus Geborgenheit
Die Vorteile liegen auf der Hand: Man kann als Paar ein Gefühl von Geborgenheit haben und trotzdem seine «Mödeli» pflegen. Diese Freiheit geben Leute, die nach einer langen Beziehung die Vorteile des Singlelebens kennen gelernt haben, ungern wieder auf. Er kann beliebig viele weitere Bücher um sich stapeln, sie wohnt weiter in ihren Designermöbeln.
Andere langjährige Paare schaffen sich diese Freiheit neu. Paartherapeut Henri Guttmann kennt das und schildert einen Fall, wo sie auszog und die Beziehung bestehen blieb. Der Mann sagte ihm später: «Jetzt kann ich ohne Schuldgefühle die Bierflaschen unter dem Bett verräumen.» Und sie ärgerte das nicht mehr. «Es geht um die Autonomie», sagt Guttmann, «nicht um die Liebe.»
Und doch ist beides miteinander verknüpft. Wachsende Einschränkungen durch den Partner können zum Trennungsgrund werden. Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello sieht dies in ihrer Altersforschung: «Paare trennen sich im Alter nicht selten, weil sich ein Partner stark verändert hat», sagt sie. Also wenn einer von beiden sehr krank wird, depressiv oder dement.
Erzählt sie das ihren Studentinnen und Studenten, sind sie erstaunt. Präsentiert sie diese Daten einem Publikum mit Senioren, dann sind die Reaktionen anders – verständnisvoller, differenzierter. «Was heisst: ‹Bis dass der Tod uns scheidet›, wenn der andere nicht mehr die Person ist, die man geheiratet hat?», fragt Perrig-Chiello.
Der Mann im Pflegeheim, die Frau zieht nicht mit
Nennen wir sie Arlette Meier, sie wird bald 80, sie wohnt allein im Haus, in das sie vor 60 Jahren mit ihrem Mann gezogen ist. Er war 12 Jahre älter. Vor einigen Jahren ging es ihm geistig und körperlich immer schlechter, und vor zwei Jahren konnte Arlette Meier nicht mehr: «Ich hatte keine Kraft mehr, ihn weiter zu pflegen», sagt sie. Spitex-Hilfe wollte ihr Mann nicht, er zog lieber ins Altersheim. Ohne seine Frau. Er hätte sich das zwar gewünscht, aber sie sagt: «Für mich war es noch nicht Zeit.» Sie besuchte ihn mehrmals wöchentlich. Im Sommer dieses Jahres ist er gestorben. «Es war nicht so, als wären wir getrennt gewesen», sagt Arlette Meier rückblickend. «Es war eine Notwendigkeit. Und es war der natürliche Schluss des Lebens.»
Die 53-jährige Grafikerin mag eine unabhängige Seele sein, doch selten ist es längst nicht mehr, dass Paare in der zweiten Lebenshälfte getrennt wohnen. Der englische Fachbegriff dafür: «Living apart together». Jüngere Paare tun das meist, weil sie noch Karriere machen und weit entfernt wohnen oder weil sie polyamourös leben wollen. Bei älteren Paaren hat Getrenntwohnen viel mit den Umständen des Alters zu tun. Und mit der heutigen Zeit.
Die Vorteile des Singlelebens plus Geborgenheit
Die Vorteile liegen auf der Hand: Man kann als Paar ein Gefühl von Geborgenheit haben und trotzdem seine «Mödeli» pflegen. Diese Freiheit geben Leute, die nach einer langen Beziehung die Vorteile des Singlelebens kennen gelernt haben, ungern wieder auf. Er kann beliebig viele weitere Bücher um sich stapeln, sie wohnt weiter in ihren Designermöbeln.
Andere langjährige Paare schaffen sich diese Freiheit neu. Paartherapeut Henri Guttmann kennt das und schildert einen Fall, wo sie auszog und die Beziehung bestehen blieb. Der Mann sagte ihm später: «Jetzt kann ich ohne Schuldgefühle die Bierflaschen unter dem Bett verräumen.» Und sie ärgerte das nicht mehr. «Es geht um die Autonomie», sagt Guttmann, «nicht um die Liebe.»
Und doch ist beides miteinander verknüpft. Wachsende Einschränkungen durch den Partner können zum Trennungsgrund werden. Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello sieht dies in ihrer Altersforschung: «Paare trennen sich im Alter nicht selten, weil sich ein Partner stark verändert hat», sagt sie. Also wenn einer von beiden sehr krank wird, depressiv oder dement.
Erzählt sie das ihren Studentinnen und Studenten, sind sie erstaunt. Präsentiert sie diese Daten einem Publikum mit Senioren, dann sind die Reaktionen anders – verständnisvoller, differenzierter. «Was heisst: ‹Bis dass der Tod uns scheidet›, wenn der andere nicht mehr die Person ist, die man geheiratet hat?», fragt Perrig-Chiello.
Der Mann im Pflegeheim, die Frau zieht nicht mit
Nennen wir sie Arlette Meier, sie wird bald 80, sie wohnt allein im Haus, in das sie vor 60 Jahren mit ihrem Mann gezogen ist. Er war 12 Jahre älter. Vor einigen Jahren ging es ihm geistig und körperlich immer schlechter, und vor zwei Jahren konnte Arlette Meier nicht mehr: «Ich hatte keine Kraft mehr, ihn weiter zu pflegen», sagt sie. Spitex-Hilfe wollte ihr Mann nicht, er zog lieber ins Altersheim. Ohne seine Frau. Er hätte sich das zwar gewünscht, aber sie sagt: «Für mich war es noch nicht Zeit.» Sie besuchte ihn mehrmals wöchentlich. Im Sommer dieses Jahres ist er gestorben. «Es war nicht so, als wären wir getrennt gewesen», sagt Arlette Meier rückblickend. «Es war eine Notwendigkeit. Und es war der natürliche Schluss des Lebens.»
Offene Kritik, dass sie nicht bis zum Schluss mit ihrem Mann zusammenwohnte, hat Arlette Meier in ihrem Umfeld nie gehört. Auch Psychologin Perrig-Chiello sieht nichts Negatives daran, wenn die Fittere von zweien den Umzug ins Heim nicht mitmacht. Living apart together entlastet die Beziehung gerade auch dann. «Erst mit der heutigen, gestiegenen Lebenserwartung wohnen Paare so lange zusammen», sagt Perrig-Chiello. Die Herausforderung über Jahrzehnte zueinander passen zu müssen, war früher nicht da. Aber auch die Möglichkeiten haben sich verändert: Zwei Wohnungen muss man sich leisten können – und das war früher seltener der Fall. «Auch telefonieren kostet heute kein Vermögen mehr», gibt Perrig-Chiello zu bedenken.
Babyboomer sind individualistischer
Und noch zwei Gegebenheiten haben sich verändert: Die Babyboomer, die jetzt alt werden, sind individualistischer als frühere Generationen. Und sie sind emanzipierter. Besonders die Frauen trauen sich eher, sich Freiheiten zu nehmen.
Wer sich durch Chatforen auf Senioren-Datingplattformen klickt, liest genau diese Argumente: Viele Frauen wollen nicht noch einmal für den Partner den Haushalt führen. «Die Frauen sehen mit 62, dass sie möglicherweise noch 20 Jahre leben, und sagen sich: Ich will mich nicht mehr so fremdbstimmen lassen», sagt Paartherapeut Guttmann. Erben sie in dieser Zeit noch Geld, dann sind sie häufig zum ersten Mal in ihrem Leben finanziell unabhängig und können diese Freiheit auch ergreifen. «Die Männer sind da oft konzilianter», pflichtet Perrig-Chiello bei, «für sie ist die Hauptsache, dass sie versorgt sind.»
Kein Wunder, sind Perrig-Chiellos Studierende ob solch unromantischer Aussichten erstaunt. Wer den bekannten Paartherapeuten Klaus Heer anfragt, wird noch deprimierter. Er schreibt: «Älteren Paaren gelingt es oft nicht, der zermürbenden Last ihres Alltags standzuhalten. Sie irritieren und plagen einander jeden Tag. Zu viel Nähe verkommt zu quälender Reibung, der zu entkommen sehr schwer sein kann. Sich räumlich zu trennen, ist dann eine Erlösung.»
Die Forschung zeigt aber, dass Personen in Beziehungen weniger suchtgefährdet und depressiv sind. Verheiratete Paare leben sogar etwas länger als Singles – wobei die Männer stärker profitieren als Frauen. Die Forscher haben dabei jedoch nicht unterschieden, ob die Paare getrennt wohnen oder zusammen.
Perrig-Chiellos Studierende waren ob einer Studie schockiert, bei der es um die Trennungsgründe ging. Hier aber geht es ums Zusammenbleiben. Ums Zusammenbleiben einer Generation, die es sich eher leisten kann, getrennt zu wohnen, sich eher getraut, es auch zu tun, sich deswegen aber nicht trennt.
Es ist auch nur auf den ersten Blick die Geschichte vom «Föifer und dem Weggli», die man beide will. Es ist vielmehr die Geschichte von Paaren, die mehr unterschiedliche Bedürfnisse haben als in jüngeren Jahren und sie auch ausleben – ohne dass sie sich am Ende zwangsläufig scheiden.
«Getrennt wohnen ist bloss die grössere Variante der getrennten Schlafzimmer», sagt Henri Guttmann. «Es sagt nichts über die Beziehung aus.» Paare, die getrennt lebten, müssten sich intensiver um den Kontakt und die Beziehung bemühen. «Man muss wieder um den anderen werben», sagt Guttmann. Gut möglich, dass es das ist, was viele Frauen dieser Generation vermisst haben, während sie kochten und das gemeinsame Haus putzten.
Babyboomer sind individualistischer
Und noch zwei Gegebenheiten haben sich verändert: Die Babyboomer, die jetzt alt werden, sind individualistischer als frühere Generationen. Und sie sind emanzipierter. Besonders die Frauen trauen sich eher, sich Freiheiten zu nehmen.
Wer sich durch Chatforen auf Senioren-Datingplattformen klickt, liest genau diese Argumente: Viele Frauen wollen nicht noch einmal für den Partner den Haushalt führen. «Die Frauen sehen mit 62, dass sie möglicherweise noch 20 Jahre leben, und sagen sich: Ich will mich nicht mehr so fremdbstimmen lassen», sagt Paartherapeut Guttmann. Erben sie in dieser Zeit noch Geld, dann sind sie häufig zum ersten Mal in ihrem Leben finanziell unabhängig und können diese Freiheit auch ergreifen. «Die Männer sind da oft konzilianter», pflichtet Perrig-Chiello bei, «für sie ist die Hauptsache, dass sie versorgt sind.»
Kein Wunder, sind Perrig-Chiellos Studierende ob solch unromantischer Aussichten erstaunt. Wer den bekannten Paartherapeuten Klaus Heer anfragt, wird noch deprimierter. Er schreibt: «Älteren Paaren gelingt es oft nicht, der zermürbenden Last ihres Alltags standzuhalten. Sie irritieren und plagen einander jeden Tag. Zu viel Nähe verkommt zu quälender Reibung, der zu entkommen sehr schwer sein kann. Sich räumlich zu trennen, ist dann eine Erlösung.»
Die Forschung zeigt aber, dass Personen in Beziehungen weniger suchtgefährdet und depressiv sind. Verheiratete Paare leben sogar etwas länger als Singles – wobei die Männer stärker profitieren als Frauen. Die Forscher haben dabei jedoch nicht unterschieden, ob die Paare getrennt wohnen oder zusammen.
Perrig-Chiellos Studierende waren ob einer Studie schockiert, bei der es um die Trennungsgründe ging. Hier aber geht es ums Zusammenbleiben. Ums Zusammenbleiben einer Generation, die es sich eher leisten kann, getrennt zu wohnen, sich eher getraut, es auch zu tun, sich deswegen aber nicht trennt.
Es ist auch nur auf den ersten Blick die Geschichte vom «Föifer und dem Weggli», die man beide will. Es ist vielmehr die Geschichte von Paaren, die mehr unterschiedliche Bedürfnisse haben als in jüngeren Jahren und sie auch ausleben – ohne dass sie sich am Ende zwangsläufig scheiden.
«Getrennt wohnen ist bloss die grössere Variante der getrennten Schlafzimmer», sagt Henri Guttmann. «Es sagt nichts über die Beziehung aus.» Paare, die getrennt lebten, müssten sich intensiver um den Kontakt und die Beziehung bemühen. «Man muss wieder um den anderen werben», sagt Guttmann. Gut möglich, dass es das ist, was viele Frauen dieser Generation vermisst haben, während sie kochten und das gemeinsame Haus putzten.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor