Dr. Klaus Heer

Schweizer ElternMagazin vom April 2011

«Es gibt ein Lustgefälle, mit oder ohne Kind»

Mit einem Kind beginnt für ein Liebespaar das grösste Abenteuer. Wenn man es zulässt. Der Psychologe Klaus Heer über die aufregende Zeit als junge Familie.
VON EDITH ARNOLD
Klaus Heer, wie ist es für ein Paar, wenn es sich plötzlich diesem Wunder von einem kleinen Menschen gegenübersieht?
Die meisten Paare erleben die Ankunft ihres Kindes als Höhepunkt ihrer Liebe. Sie sind überwältigt von dem Wunder, das ihnen das Leben in den Schoss gelegt hat. Niemand vergisst diese magischen Momente; sie verbinden Mann und Frau für immer als Elternpaar.

Für immer ist schön. Was folgt auf die rosa Phase?
Das ist bei jedem Elternpaar anders und einzigartig. Ganz sicher ist Rosa vorbei, es kommen neue Farben.

Bei einigen jungen Eltern hört man ein leises Stöhnen ...
Sobald sich abzeichnet, dass sie kein Liebespaar mehr sind, sondern ein Elternpaar, sind die zwei aufs Äusserste gefordert. Die existenzielle Fokusverschiebung ist ein gewaltiger Stress. Nur mit grösster Mühe schaffen es die meisten Paare, den Frust über das Verschwinden der Schmetterlinge im Bauch zu verwinden. Die Grundenttäuschung zeigt sich in den vielfältigsten Situationen. Zum Beispiel ist es schwer, mit einem häufig schreienden Baby oder chronischem Schlafmangel zurechtzukommen. Fast alle Paare müssen durch solche Talsohlen.

Manchen gelingt die Umstellung schneller.
Vermutlich sagen sie voll ja zu dem, was jetzt ist. Egal wie es ist. Glück ist überhaupt nur möglich, wenn man sich dem Leben hingibt.

Verstärkt sich das Klima der früheren Beziehung durch ein Kind?
Ein Kind kann die Schwachstellen einer Partnerschaft an die Oberfläche bringen. Neigt ein Paar zu unterschwelligen Machtkämpfen, drohen flächendeckende Spannungen, wenn der Kleinfamilienstress wächst.

Wie erleben Paare, die zu Ihnen kommen, den Übergang zur Elternschaft?
Die Wandlung zum Elternpaar kann dramatisch verlaufen. Niemand vermag sich die Dimension vorzustellen. Die Veränderung ist radikal, körperlich, emotional, psychisch. Viele Eltern wehren sich gegen ihre neue Rolle und wollen unbedingt ein Liebespaar bleiben. Es geht nicht. Die Liebe hat jetzt andere Aufgaben: sich hingeben und nachgeben, mutig und geduldig sein, weich und beweglich.

Mit welchen äusseren Einflüssen müssen sich Eltern heute auseinandersetzen?
Es ist für Eltern eine zwiespältige Zeit. Noch nie gab es so viele Möglichkeiten, das Leben zu gestalten. Andererseits produzieren hochgeschraubte Ideen und Ideale eine Menge Überforderung.

Mangelt es aber nicht einfach auch an der Zeit füreinander?
Nein, gemeinsame Zeitoasen zu schaffen, ist nicht das Problem. Meine erschütternde Erfahrung: Man sagt, man habe keine Zeit, und sitzt täglich Stunden vor dem Computer
oder Fernseher.

Wo liegt das eigentliche Problem?
Man will die enorme Umstellung vom Liebes- zum Elternpaar einfach nicht annehmen. Wer nicht ganz Ja sagen will zu dem, was ist, steckt im Problem fest. Dann haben wir Differenzen, die zu Abgründen führen können. Doch die widerwärtigen Differenzen sind Chancen, uns richtig kennenzulernen. Der eine ist sorgfältig, der andere eher das Gegenteil: Eine solche Konstellation kann sich zu einem Schlachtfeld ausweiten. Statt in Frust und Krieg zu schlittern, könnte man den Partner einladen: «Erzähl mal, wie ist das für dich, wenn du so ordentlich bist und ich so chaotisch?» Noch nie habe ich erlebt, dass sich jemand nach Vorwürfen ändert. Interessiertes Reden über Ungleichheiten kann aber tatsächlich eine Veränderung in Gang bringen.

Interessiertes Reden klingt gut.
Ich staune immer wieder über die emotionale Fantasielosigkeit. Eine Beziehung bietet sich als Ort für Schöpferisches und Experimentelles geradezu an. Und wenn Kinder da sind, mehren sich die Chancen exponentiell. Laut miteinander denken, Versuche vorschlagen, Deals machen: Mit einem Kind hat man tausend Gelegenheiten, ein lebendiger, reifer Mensch zu werden.
Welche Rolle kommt dabei dem Kind zu?
Ein Kind hat die Aufgabe, Kind zu sein, basta. Es ist lebendig genug, um dafür zu sorgen, dass seine Eltern lebendig bleiben. Kinder lieben das Leben ungebrochen und reissen ihre Eltern mit in den Lebensstrom – ohne es zu wissen. Allein durch seine Anwesenheit gestaltet ein Kind den Fluss so, dass wir uns aufs Wesentliche konzentrieren und erkennen, dass der Alltag das Einzige ist, was wir haben. Und was gibt es Besseres als einen voll gelebten Alltag? Ein Kind bringt uns an die Grenzen des Glücks, der Freude, der Geduld, der Sinnlichkeit, der Offenheit, der Tragfähigkeit. Leben mit Kindern bedeutet Starkstromleben.

Wie kann bei aller Intensität das Sexualleben aufrechterhalten bleiben?
Die Frage ist, ob das beide wollen. Die Natur ist gnadenlos. Sobald die Sexualität ihren biologischen Sinn erfüllt hat, legt sie sich gerne schlafen.

Wie bitte?
Der Abfall der Eros-Energie ist nach dem ersten Kind enorm. Verlässliche statistische Zahlen gibt es nicht, aber ich bin sicher, dass die Mehrzahl der Frauen durch die strukturelle Umstellung direkt betroffen ist. Die Männer eher indirekt. Sexualität müssen aber beide zur gleichen Zeit wollen. Sonst gleiten wir ab in die häusliche Prostitution.

Was raten Sie willigen, aber erschöpften Paaren?
Die beiden könnten einander doch einfach beschreiben, wie es aussieht mit ihrer Sexualität. So kann Intimität entstehen. Und so etwas wie Wohl-Lust. Wollust bringt keinem etwas, wenn dem anderen dabei nicht wohl ist. Kein Paar verspürt immer gleich viel Lust, es gibt ein Gefälle, mit oder ohne Kind, ob jung oder alt. Doch diese mutige Frage hält uns jung und frisch: «Was machen wir jetzt mit unserem Lustgefälle?» Experimentieren mit den unterschiedlichen Bedürfnissen! Das Bezaubernde dabei: Wohllust ist mit Müdigkeit kompatibel! Sex im konventionellen Sinn nicht.

Und wenn nicht alle ihre Wünsche einfordern können?
Mein Gott, immer diese Angst, zu kurz zu kommen! Emotionaler Geiz generiert viele Probleme. Am einfachsten ist es, wenn man beginnt, aufs Gegenüber einzugehen. Sobald ich Ohr und Herz aufmache, blüht eine neue Stimmung auf, sofort, augenblicklich. Das ist ein potenter Ausweg aus einer noch so verfahrenen Situation. In der Praxis nötige ich Paare, einander nach Jahren das erste Mal zuzuhören.

Wie erleben Sie Paare heute im Vergleich zu früher?
Heute ist es eher so, dass sich junge Eltern sehr verlassen fühlen in ihrer 3000-Franken-Wohnung nach Minergiestandard. Wenn es schwierig wird, gibt’s ausser Google kaum mehr hilfreiche und orientierende Instanzen. Es fehlen Mut und Selbstvertrauen, um sich auf sich selbst zu verlassen und Unbekanntes zuzulassen. Und immer die fixe Idee: Nur das Allerbeste ist gut genug für mein Kind! Und für meinen Thronfolger gibt es nur einen einzigen qualifizierten Erziehungsagenten: mich! Wie arrogant und steif! Versteifung vereitelt so viele neue Lebensmöglichkeiten.

Was wäre denn das Beste für den Thronfolger?
Junge Eltern müssen Gleichgewichtskünstler sein. Allen muss es einigermassen gut gehen: dem Kind, der Mutter, dem Vater. Als Elternpaar haben letztere die gemeinsame Aufgabe, dauernd miteinander von neuem einzuschätzen, was es braucht, damit ihnen beiden wohl ist. Miteinander und mit ihrem Kind. Ein Kind braucht zufriedene Eltern.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor