Tages Anzeiger vom 1. April 2011
Abtörnender Pornokonsum
In den letzten Jahren sind mehrere Studien zum Schluss gekommen, Pornofilme hätten keine Auswirkungen auf die männliche Sexualität. Therapeuten beobachten etwas ganz anderes.
VON LILLIANE MINOR
VON LILLIANE MINOR
Es sind immer öfter junge Männer, die bei Esther Elisabeth Schütz Hilfe suchen und über Lustlosigkeit klagen. Schütz ist klinische Sexologin und Gründerin des Instituts für Sexualpädagogik und Sexualtherapie in Uster. Peter Gehrig vom Zürcher Institut für klinische Sexologie und Sexualtherapie beobachtet in seiner Praxis eine ähnliche Tendenz, ebenso Sexualtherapeutin Gabriela Kirschbaum. Sie alle sind überzeugt: Ein Grund dafür ist der übermässige Konsum von Pornografie. Auch der Paartherapeut und Buchautor Klaus Heer vertritt diese These: Pornos, sagt er, seien eine simple Methode, sich sexuell zu befriedigen, während befriedigender Geschlechtsverkehr «ein vertracktes Kunststück» sei.
Faszination kehrte zurück
Einer von Schütz’ Klienten ist Marc M. Der 28-Jährige hat seine Sexualität sieben Jahre lang mit Filmen ausgelebt, in denen der Sex mit Fesselspielen (Bondage) einhergeht. Dann lernte er eine Frau kennen. In der ersten Zeit hatte das Paar guten Sex, aber es ging nicht lange, bis sich die alte Faszination zurückmeldete. Marc M. begann wieder, Pornos zu konsumieren, während die Lust in der Partnerschaft allmählich versiegte.
Glaubt man den Erkenntnissen aus neuesten wissenschaftlichen Studien, ist Marc M. ein Fall, den es gar nicht geben sollte. Mehrere Untersuchungen kamen in den letzten Jahren zum Schluss, negative Auswirkungen von Pornografie seien nicht nachweisbar. «Mich überrascht das», gesteht Sexologin Schütz, «denn die klinische Realität sieht anders aus.» Warum die Diskrepanz? Schütz: «Möglicherweise müsste die Wissenschaft neue Instrumente entwickeln, mit denen sich das sexuelle Begehren bei hohem Pornokonsum verlässlich messen lässt.»
«Tendenziöse Umfragen»
Auch Klaus Heer hält wenig von den Studien: «Umfragen über Sex sind allemal unzuverlässig und meist tendenziös.» Für Gabriela Kirschbaum spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass Pornos heute bei jungen Männern dazugehören: «Sie realisieren nicht, dass das ein Problem sein könnte.»
Esther Elisabeth Schütz ist der Ansicht, dass vermehrt Erkenntnisse zum Beispiel aus der Hirnforschung oder der Anatomie berücksichtigt werden müssten, um die Auswirkungen von Pornografie zu untersuchen. Aus der Hirnforschung ist bekannt, dass unser Gehirn Bilder, die wir im Zustand hoher Erregung sehen, deutlicher und intensiver abspeichert. Diese Bilder sind später besser abrufbar, ebenso die zugehörigen Gefühle. «Das gilt natürlich auch für sexuelle Bilder, welche die Männer im Zustand der Erregung betrachten», erklärt Schütz.
Verhängnisvolle Mechanismen
Problematisch werde das, wenn der Konsum überhandnehme oder zu früh beginne. Dann läuft ein verhängnisvoller Mechanismus ab: Die Männer suchen sich aus der Fülle der Filme und Bilder immer gezielter jene aus, die genau ihren Vorlieben entsprechen – etwas, was früher kaum machbar war. So engen sie unbewusst den sogenannten Anziehungscode – also den Reiz, der am Anfang der sexuellen Erregung steht – immer mehr ein. Die Fantasie, ein wichtiger Faktor für gelingenden Geschlechtsverkehr, kommt zu kurz.
Das war bei Marc M. mit seiner Vorliebe für Bondage-Videos der Fall, das ist auch bei anderen von Schütz’ Klienten so. Da war zum Beispiel auch einer, der mit der Zeit völlig auf eine ganz bestimmte Brustform fixiert war. Als er entdeckte, dass die Brüste seiner neuen Freundin nicht seinem Idealbild entsprachen, ging im Bett erst einmal gar nichts mehr. Der zweite, entscheidende Faktor ist in den Augen der Sexologen der Umstand, dass Männer beim Pornoschauen in der Regel sitzen. Was dabei abläuft, erklärt Schütz so: «Wenn ein Mann vor dem Computer sitzt, in den Bildschirm guckt und sich mechanisch rubbelt, nimmt er die Empfindungen in seinem eigenen Geschlecht kaum wahr. Er ist mehr mit dem Netz verbunden als mit seinem Penis und funktioniert quasi auf Autopilot.» Hüftbewegungen, die beim wirklichen Geschlechtsverkehr lustfördernd wirken, sind in dieser Stellung kaum möglich.
Gefangene der Bilder
Irgendwann sind die Männer dann am Punkt angelangt, an dem sie spüren, dass sie im Bett keine Lust mehr empfinden. In einer solchen Situation sofort mit dem Pornokonsum aufzuhören, ist schwierig, beobachten die Therapeutinnen immer wieder. Marc M. hat es versucht, erfolglos. Er erlebte einen Kreislauf aus Hoffnung und Enttäuschung. Erst verzichtete er, dann versuchte er, seine Partnerin zum Mitmachen zu animieren.
Sie aber merkte bald, dass die Lust ihres Partners nicht ihr galt, sondern dem Film, und zog sich zurück. Marc M. versuchte es erneut mit Verzicht, hielt aber nicht durch. Schliesslich suchte er Esther Elisabeth Schütz auf. Marc M.s Geschichte ist typisch für die Betroffenen. Sie lieben eine Frau, kommen aber nicht von den Bildern los.
Ausschalten statt abschalten
Schütz empfiehlt diesen Männern einerseits ein langsames Vorgehen, zum Beispiel, kurz vor dem Höhepunkt nur noch den Ton laufen zu lassen. So können sie wieder eigene sexuelle Fantasien entwickeln. Anderseits gibt die Therapeutin ganz konkrete Handlungsanweisungen, zum Beispiel, während des Pornoschauens zu stehen, statt zu sitzen, um wieder mehr Gefühl für den eigenen Körper zu bekommen.
Völlige Pornoabstinenz ist in der Therapie nicht ihr Ziel. «Das Visuelle ist eine wichtige Erregungsquelle für Männer. So gesehen ist Pornografie nichts Schlechtes», sagt sie, «aber die Männer sind gefordert, als gute Liebhaber damit kompetent umzugehen.» Ähnlich sieht es Gabriela Kirschbaum: «An sich sind Stimulationsmittel wie Pornografie bei der Selbstbefriedigung nichts Schlechtes, solange keine Sucht daraus wird.» Klaus Heer ist anderer Meinung: «Der Pornokonsum korrumpiert allmählich das männliche Gefühl für erotische Begegnungen, auch wenn er im sogenannt normalen Rahmen bleibt. Ich bin sicher, dass man die Pornografie generell verharmlost.»
Faszination kehrte zurück
Einer von Schütz’ Klienten ist Marc M. Der 28-Jährige hat seine Sexualität sieben Jahre lang mit Filmen ausgelebt, in denen der Sex mit Fesselspielen (Bondage) einhergeht. Dann lernte er eine Frau kennen. In der ersten Zeit hatte das Paar guten Sex, aber es ging nicht lange, bis sich die alte Faszination zurückmeldete. Marc M. begann wieder, Pornos zu konsumieren, während die Lust in der Partnerschaft allmählich versiegte.
Glaubt man den Erkenntnissen aus neuesten wissenschaftlichen Studien, ist Marc M. ein Fall, den es gar nicht geben sollte. Mehrere Untersuchungen kamen in den letzten Jahren zum Schluss, negative Auswirkungen von Pornografie seien nicht nachweisbar. «Mich überrascht das», gesteht Sexologin Schütz, «denn die klinische Realität sieht anders aus.» Warum die Diskrepanz? Schütz: «Möglicherweise müsste die Wissenschaft neue Instrumente entwickeln, mit denen sich das sexuelle Begehren bei hohem Pornokonsum verlässlich messen lässt.»
«Tendenziöse Umfragen»
Auch Klaus Heer hält wenig von den Studien: «Umfragen über Sex sind allemal unzuverlässig und meist tendenziös.» Für Gabriela Kirschbaum spielt auch die Tatsache eine Rolle, dass Pornos heute bei jungen Männern dazugehören: «Sie realisieren nicht, dass das ein Problem sein könnte.»
Esther Elisabeth Schütz ist der Ansicht, dass vermehrt Erkenntnisse zum Beispiel aus der Hirnforschung oder der Anatomie berücksichtigt werden müssten, um die Auswirkungen von Pornografie zu untersuchen. Aus der Hirnforschung ist bekannt, dass unser Gehirn Bilder, die wir im Zustand hoher Erregung sehen, deutlicher und intensiver abspeichert. Diese Bilder sind später besser abrufbar, ebenso die zugehörigen Gefühle. «Das gilt natürlich auch für sexuelle Bilder, welche die Männer im Zustand der Erregung betrachten», erklärt Schütz.
Verhängnisvolle Mechanismen
Problematisch werde das, wenn der Konsum überhandnehme oder zu früh beginne. Dann läuft ein verhängnisvoller Mechanismus ab: Die Männer suchen sich aus der Fülle der Filme und Bilder immer gezielter jene aus, die genau ihren Vorlieben entsprechen – etwas, was früher kaum machbar war. So engen sie unbewusst den sogenannten Anziehungscode – also den Reiz, der am Anfang der sexuellen Erregung steht – immer mehr ein. Die Fantasie, ein wichtiger Faktor für gelingenden Geschlechtsverkehr, kommt zu kurz.
Das war bei Marc M. mit seiner Vorliebe für Bondage-Videos der Fall, das ist auch bei anderen von Schütz’ Klienten so. Da war zum Beispiel auch einer, der mit der Zeit völlig auf eine ganz bestimmte Brustform fixiert war. Als er entdeckte, dass die Brüste seiner neuen Freundin nicht seinem Idealbild entsprachen, ging im Bett erst einmal gar nichts mehr. Der zweite, entscheidende Faktor ist in den Augen der Sexologen der Umstand, dass Männer beim Pornoschauen in der Regel sitzen. Was dabei abläuft, erklärt Schütz so: «Wenn ein Mann vor dem Computer sitzt, in den Bildschirm guckt und sich mechanisch rubbelt, nimmt er die Empfindungen in seinem eigenen Geschlecht kaum wahr. Er ist mehr mit dem Netz verbunden als mit seinem Penis und funktioniert quasi auf Autopilot.» Hüftbewegungen, die beim wirklichen Geschlechtsverkehr lustfördernd wirken, sind in dieser Stellung kaum möglich.
Gefangene der Bilder
Irgendwann sind die Männer dann am Punkt angelangt, an dem sie spüren, dass sie im Bett keine Lust mehr empfinden. In einer solchen Situation sofort mit dem Pornokonsum aufzuhören, ist schwierig, beobachten die Therapeutinnen immer wieder. Marc M. hat es versucht, erfolglos. Er erlebte einen Kreislauf aus Hoffnung und Enttäuschung. Erst verzichtete er, dann versuchte er, seine Partnerin zum Mitmachen zu animieren.
Sie aber merkte bald, dass die Lust ihres Partners nicht ihr galt, sondern dem Film, und zog sich zurück. Marc M. versuchte es erneut mit Verzicht, hielt aber nicht durch. Schliesslich suchte er Esther Elisabeth Schütz auf. Marc M.s Geschichte ist typisch für die Betroffenen. Sie lieben eine Frau, kommen aber nicht von den Bildern los.
Ausschalten statt abschalten
Schütz empfiehlt diesen Männern einerseits ein langsames Vorgehen, zum Beispiel, kurz vor dem Höhepunkt nur noch den Ton laufen zu lassen. So können sie wieder eigene sexuelle Fantasien entwickeln. Anderseits gibt die Therapeutin ganz konkrete Handlungsanweisungen, zum Beispiel, während des Pornoschauens zu stehen, statt zu sitzen, um wieder mehr Gefühl für den eigenen Körper zu bekommen.
Völlige Pornoabstinenz ist in der Therapie nicht ihr Ziel. «Das Visuelle ist eine wichtige Erregungsquelle für Männer. So gesehen ist Pornografie nichts Schlechtes», sagt sie, «aber die Männer sind gefordert, als gute Liebhaber damit kompetent umzugehen.» Ähnlich sieht es Gabriela Kirschbaum: «An sich sind Stimulationsmittel wie Pornografie bei der Selbstbefriedigung nichts Schlechtes, solange keine Sucht daraus wird.» Klaus Heer ist anderer Meinung: «Der Pornokonsum korrumpiert allmählich das männliche Gefühl für erotische Begegnungen, auch wenn er im sogenannt normalen Rahmen bleibt. Ich bin sicher, dass man die Pornografie generell verharmlost.»
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor