Dr. Klaus Heer

Tages Anzeiger vom 17. Mai 2011
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Kurzschluss in New York

Ist Dominique Strauss-Kahn ein Sextäter? Hat sich der Chef des IWF wirklich auf die Hotelputzfrau gestürzt, so schädigte sein Trieb die eigene Karriere.

VON THOMAS WIDMER, HANNES NUSSBAUMER
Die Putzfrau, eine 32-jährige afrikanische Immigrantin, schliesst die Hotelsuite auf, ruft «Hausdienst» und betritt die Suite, die sie verlassen wähnt. Da stürzt sich aus dem Bad ein nackter Mann auf sie, zerrt sie ins Schlafzimmer, will sie zum Sex zwingen. Sie kann fliehen, und jemand vom Personal alarmiert umgehend die Polizei. Der Mann verlässt derweil in grosser Hast das Haus und vergisst sein Handy. Bereits im Flugzeug sitzend, das ihn ausser Landes bringen soll, wird er später verhaftet.

Die Rede ist natürlich vom Franzosen Dominique Strauss-Kahn, 62, Chef des Internationalen Währungsfonds IWF, der den Vorwurf bestreitet. Seit dem samstäglichen Vorfall im Hotel Sofitel New York grübelt aber alle Welt: Falls die Darstellung der Putzfrau wirklich stimmt und die Übergriffsvorwürfe sich bewahrheiten – was um Himmels willen hat Strauss-Kahn, der als heisser Anwärter auf Frankreichs Präsidentenamt galt, zu der Tat getrieben? Wie konnte Strauss-Kahn sich selber, seine Funktion, seine Ambitionen auf die Sarkozy-Nachfolge kurzfristig so total vergessen? Das Prestige der öffentlichen Stellung einerseits, die Würdelosigkeit der Verfehlung anderseits stehen jedenfalls in krassem Gegensatz. Da scheint einer in einigen Augenblicken der Raserei sich und seine Biografie ruiniert zu haben. Denn eine geplante Tat war das vermutlich nicht: Strauss-Kahn wird ja wohl kaum so lange in seiner Suite gelauert haben, bis eine Putzfrau kam, die er überfallen konnte.

Ist er ein Hormon-Opfer?

Die Spekulation, was den Mann getrieben hat, verläuft auf zwei Bahnen. Der erste Ansatz: Strauss-Kahn ist ein sexuell Kranker, ein Hormon-Opfer. Dass es sich gleichzeitig um einen Top-Funktionär handelt, an dem das Wirtschaftsheil ganzer Länder zu hängen scheint, ist aus dieser Sicht reiner Zufall.

Die zweite Deutung besagt exakt das Gegenteil: Macht und Mann sind demnach eng verbunden. Die Macht hat mit dem Mann etwas gemacht. Sie hat ihn zum Unguten verändert oder wenigstens das Ungute in ihm forciert.In diese Richtung geht die Interpretation des emeritierten Basler Psychologieprofessors Udo Rauchfleisch: Zwar verändere eine Superkarriere die Persönlichkeit nicht fundamental, sagt Rauchfleisch. Aber: «Grössere Macht bedeutet auch ein Mehr an Verführungen. Man gewöhnt sich daran, dass man das Sagen hat. Und man entwickelt daraus das Gefühl, dass man überall das Sagen hat, auch in Bereichen, wo strikte Tabus gelten. Man wird hemmungslos.» Rücksichtslosigkeit ist für Rauchfleisch eine weitverbreitete Eigenschaft machtvoller Persönlichkeiten: «Sie schärfen auf ihrem Weg nach oben zwar ihre soziale Kompetenz. Denn sie brauchen diese für ihr Fortkommen. Gleichzeitig entwickeln sie aber auch Rücksichtslosigkeit. Denn ohne diese ist das Aufsteigen schwierig.»

Personen an der Spitze hadern mit Sexualität

Auffällig, dass des öftern Spitzenpolitiker, Spitzenfunktionäre, Spitzenmanager an ihrer Sexualität scheitern. US-Präsident Bill Clinton liess sich von Praktikantin Monica Lewinsky oral befriedigen und leugnete dies, bis das Kleid mit dem Samenflecken ins Spiel kam. Eliot Spitzer, Gouverneur des Bundesstaates New York, war ein knallharter Moralpolitiker auch in Sachen Prostitution, nahm aber die Dienste eines Escort-Service in Anspruch. Moshe Katsav schliesslich, der israelische Staatspräsident, wurde gleich gegen mehrere subalterne Mitarbeiterinnen handgreiflich und landete als Vergewaltiger im Gefängnis.

Wohlgemerkt, die Fälle sind inhaltlich total verschieden. Sie bilden die ganze Spanne von legal bis illegal ab. Monica Lewinsky tat, was sie an Bill Clinton tat, aus freien Stücken, Zwang war dabei nicht im Spiel. Eliot Spitzer kaufte sich Sex und mag dabei gegen einzelne Gesetzesbestimmungen verstossen haben. Die Opfer von Moshe Katsav wiederum wurden rüde genötigt. Und auch Dominique Strauss-Kahn, der vor drei Jahren eine firmeninterne Affäre mit einer jungen Ungarin hatte und sich entschuldigen musste, weil er damit gegen den IWF-Kodex verstiess – dieser Womanizer war im Sofitel vielleicht willens zur Gewaltanwendung.

Und doch verbindet das eine erwähnte Motiv all die Fälle: Ein Mächtiger müsste wissen, dass es so nicht geht. Dass das Risiko einer Entdeckung zu gross ist – er ist eine öffentliche Person, wird von den Medien eng begleitet. Trotzdem überschreitet er die Grenze. Warum tut er das? Das Psychogramm dieses Männertyps mag bei aller Klischiertheit einiges erklären: Die Jahre des Aufstiegs, die Schufterei für die Karriere haben ihn seiner Familie und Frau (wenn er denn noch eine hat) entfremdet. Seine Existenz ist quasi hors-sol, er ist überall und nirgends, verliert die soziale Erdung. Die Einsamkeit mit der einen oder anderen Liebschaft abzudämpfen, ist schwierig, im Grunde genommen kommen nur Sekretärinnen und Untergebene infrage, die eigentlich tabu sind. Rein sexuelle Kontakte verschafft er sich auch nicht leicht, denn er ist zum einen grässlich verplant. Und zum anderen steht er mehr oder minder unter Beobachtung und darf, wenn er zu einer Prostituierten geht oder ein Callgirl ruft, keine Spuren hinterlassen.

Macht macht übermütig

«Man muss einen gewaltigen Aufwand treiben, damit man eine derartige Machtfülle erreicht», sagt der Berner Paartherapeut Klaus Heer über Männer à la Dominique Strauss-Kahn. Weil aber selbst der genialste Typ nur über limitierte Ressourcen verfüge, entstünden Defizite, wenn einer sämtliche Energie auf ein einziges Ziel fokussiere. «Man kann sich leicht ausdenken, was zu kurz kommt, wenn sich jemand mit aller Kraft auf seine Karriere konzentriert: das Beziehungsleben, die sexuelle Entfaltung.» Das habe Folgen: «Was nicht gepflegt wird, bildet sich zurück oder verformt sich.» Heer spricht von «Standschäden», die in einem solchen Fall zu erwarten seien. Wer das nicht machtgestützte Verhalten nicht brauche, verlerne dieses. Gefährlich sei, wenn einer das Gefühl habe, seine Bäume müssten in den Himmel wachsen.

Vermutlich macht also die Machtfülle diesen Typus Mann übermütig. Vielleicht glaubt er, schon so viel an Anwürfen und Anfechtungen überstanden zu haben, dass er notfalls auch sexuelle Anschuldigungen wird abschmettern können. Vielleicht hält er sich gar für immun. Psychologe Rauchfleisch stellt fest, dass Personen in Spitzenfunktionen Gefahr laufen, Allmachtsgefühle zu entwickeln. «Sie glauben, sich alles leisten zu können und für nichts zur Rechenschaft gezogen zu werden.» Es komme zum Realitätsverlust, der sich in Machtmissbrauch und willkürlichem Verhalten äussere. Dazu passt die Interpretation anderer Psychologen, die so argumentieren: Solche Männer finden das Spiel mit der Gefahr des unerlaubten Sex, den Flirt mit dem Risiko, das dreiste Tun des Nicht-Tunbaren reizvoll.

«Suchtfummler Clinton»

Psychologe Heer sagt, wie es anders ginge: «Die beste Versicherung ist eine lebendige Beziehung. Weil man vom Partner immer wieder kritisiert wird, bleibt man auf dem Boden», so Heer. Habe einer einmal den Boden unter den Füssen verloren, sei es extrem schwierig, ihn zurückzuholen. «Es gibt eigentlich nur eine Möglichkeit: dass es der Partnerin zu bunt wird und sie ihm die Trennung ankündigt. Keine Therapie ist so potent wie ein solcher Akt.»

Im Fall von Dominique Strauss-Kahn verhält es sich allerdings so, dass seine Gattin derzeit dezidiert seine Unschuld verficht – es gibt keine beobachtbaren Symptome des Zweifels an ihrem Star. Auch wenn gestern eine junge Frau in die Öffentlichkeit trat, die von diesem bereits vor neun Jahren sexuell belästigt worden sein will. Vielleicht kann ein bestimmter Typus Mann auch gar nicht anders. Dann gälte wieder jene Deutung, wonach die Machtstellung nicht entscheidend ist und manche Männer simpel genitalgetrieben sind. Bill Clinton kann als Prototyp herhalten, er gilt als notorischer Frauenheld, ist laut «Spiegel» der «Typ des bäuerlichen Suchtfummlers». Und natürlich ist dann auch die Kultur zu berücksichtigen, in der die Person agiert. Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi feierte auf seinem Anwesen Sexpartys, unter den Frauen war die damals 17-jährige Tänzerin Karima «Ruby» al-Mahroug; als diese wegen Diebstahls auf der Polizeiwache sass, soll Berlusconi die Polizei unzulässig unter Druck gesetzt haben, sie freizulassen. Berlusconi lebt in einem Land, in dem die Figur des gealterten «Frauen-Geniessers» mit einer gewissen Sympathie rechnen kann. Auch gegen Dominique Strauss-Kahn wären die Strafbehörden vielleicht nicht mit der gleichen Härte und Konsequenz vorgegangen, wenn der Vorfall sich nicht in Amerika ereignet hätte, sondern in Frankreich.

Unbeflecktes Helvetien

Der Schweiz sind grössere Sexskandale mit politischen Weiterungen bisher erspart geblieben. Offen sei, ob es tatsächlich keine Fälle von skandalträchtigem Verhalten gebe oder ob einfach nicht darüber gesprochen werde, sagt einer, der die Vorgänge in Bundesbern lange beobachten konnte: Peter Hablützel, einst Berater von SP-Bundesrat Willi Ritschard, dann langjähriger Personalchef des Bundes.

Dass Personen auf Top-Posten Gefahr laufen, den Realitätssinn zu verlieren, stellt Hablützel aber auch in der Schweiz fest. «In den letzten Jahren haben Exekutivpolitiker ihre persönlichen Stäbe stark ausgebaut», sagt Hablützel. Die Pressestellen wurden verstärkt, PR-Spezialisten und Berater eingestellt – es wurde ein Umfeld geschaffen, das vor allem ein Ziel hat: den Politiker möglichst gut darzustellen. Diese Imagepflege korrespondiert mit der Tendenz zur Personalisierung, die sowohl von den Medien wie von den PR-Strategen gefördert wird. Das alles zusammen, so Hablützel, «führt bei den Spitzenpolitikern zur Überzeugung: Auf mich kommts an. Ich bin ein Macher.»

«Grosse Einsamkeit»

Typisch Politiker – und längst nicht nur typisch Schweizer Politiker – ist dabei, dass zur Selbstüberschätzung eine paradoxe zweite Eigenschaft hinzukommt. Oswald Sigg, der während Jahrzehnten diverse Bundesräte beraten und am Ende als Bundesratssprecher gewirkt hat, erinnert sich: «Mir fiel sowohl bei den Bundesräten wie bei ausländischen Staatsgästen immer ein gemeinsamer Nenner auf: die grosse Einsamkeit.» Der Grund: «Die Spitzenpolitiker wissen nie, ob die Zeichen der Sympathie und Anteilnahme echt oder berechnend sind.» Er könne sich sehr gut vorstellen, dass Menschen, die aufgrund ihres Amtes auf grosse Bewunderung stössen, damit psychisch nicht zurechtkommen würden, sagt Sigg. Und noch etwas hat er festgestellt: «Viele Spitzenpolitiker fürchten sich sehr vor dem Leben danach, vor dem Leben ohne Amt.» Dominique Strauss-Kahn ist nach dem Vorfall im New Yorker Sofitel unmittelbar mit diesem Leben ohne Amt konfrontiert. Und mit der Drohung einer Haftstrafe.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor