Dr. Klaus Heer

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«Von Körpernähe und Herzenswärme»

SEXUELL AKTIV BLEIBEN IM ALTER. Sex kann eine Quelle der Lebensenergie sein, ist aber auch mit Herausforderungen verbunden. Ein Gespräch mit dem Paartherapeuten Klaus Heer über Liebe, sexuelle Bedürfnisse und Irrtümer.

INTERVIEW: RITA TORCASSO
Was hält Liebespaare aus Ihrer Sicht während vieler Jahrzehnte zusammen?
Wahrscheinlich das geglückte Gleichgewicht zwischen Autonomie und Verbundenheit. Das heisst nichts anderes, als behutsam zu akzeptieren, wie anders der Andere ist. Konkret wird man damit konfrontiert, wenn man zuhört, was der Partner sagt – mit Neugier, die ja ein entscheidendes Lebenselixier in der Sexualität ist. Sexuelle Energie speist sich aus der Verschiedenheit.

Sex im Alter war lange ein Tabu, heute scheint es selbstverständlich, dass auch Achtzigjährige noch Sex haben. Woher kommt diese Offenheit?
Wer heute alt ist, hat in den Siebzigerjahren den grossen sexuellen Umschwung miterlebt, und viele von ihnen wollen jetzt nicht zurückbuchstabieren. Nur wenige geben die errungene Freiheit freiwillig wieder her.

Welches sind trotz Enttabuisierung «Irrtümer» in Bezug auf Sex im Alter?
Vermutlich ist es die Kehrseite der Freiheit, die älteren Menschen das Leben schwer macht. Früher hat man nicht dürfen. Und seit vierzig Jahren muss man müssen. Sex ist zur Arbeit verkommen. Männer, die im naturbelassenen Zustand nicht mehr könnten, leisten nun viagragestützt Untadeliges im Bett. Nicht immer zur Freude ihrer Frauen.

Was braucht es eigentlich für guten Sex?
Ein offenes Herz und einen freien Kopf. Wer auf Erregung und Orgasmus aus ist, jagt einem Phantom hinterher, statt Körpernähe und Herzwärme zu geniessen. Entspannung schon vor dem Orgasmus macht den Sex wunderbar! Entspannung ist überhaupt höher zu werten als der sogenannte Höhepunkt.

Gibt es bestimmte Gründe dafür, dass Paare ohne Sex miteinander leben, und zwar offenbar immer mehr?
Viele Köpfe sind voll von unrealistischen Ideen, was Liebe und Sexualität betrifft. So sind Männer oft fest überzeugt, ohne regelmässigen Standardsex nicht leben zu können. Und Frauen lassen sich von solchen fixen Ideen unter Druck setzen. Doch Druck und Lust können nicht nebeneinander existieren, die Lust wird erdrückt. Der zweite gewichtige Grund ist der Zeitmangel. Zeit ist der Rohstoff der Liebe. Verdrängt alles andere die Paarzeit im Alltag an den Schluss der Prioritätenliste, verdorrt die Liebe.

Im Alter werden Erkrankungen häufiger und als Folge davon auch unfreiwillige sexuelle Auszeiten. Wie kann man nach einer solchen Erfahrung gemeinsam das sexuelle Feuer wieder entfachen?
Schicksalsschläge sind aus meiner Sicht eher geeignet, die Verbindung zwischen zwei Menschen zu vertiefen. Die Liebe erreicht eine neue Dimension. Und das eigentlich, ohne dass man etwas dafür tun müsste – ausser sich hinzugeben.

Was raten Sie Paaren, die mit dem Anliegen zu Ihnen kommen, ihre «entsexualisierte» Beziehung neu zu beleben?
Gewöhnlich kläre ich ab, ob es noch Spuren von Berührung und Zärtlichkeit zwischen den beiden gibt. Eigentlich ist es ja kaum möglich, sexuelle Hitze zu schaffen, wenn das Beziehungsklima arktisch ist. Überhaupt sind professionelle Ratschläge häufig Schläge ins Wasser. Paradoxerweise sind Erschütterungen oft viel wirksamer. Zum Beispiel, wenn einer der Partner plötzlich eine eigene Wohnung sucht. Oder wenn Untreue alles auf den Kopf stellt.
In den letzten zwölf Jahren verdoppelte sich die Scheidungsrate bei den sechzigjährigen und verdreifachte sich bei den 65-Jährigen. Welche Rolle spielt die Sexualität bei der Trennung nach dreissig und mehr Ehejahren?
Immer weniger Menschen finden sich heute damit ab, eine verblühte und vertrocknete Beziehung um jeden Preis durchzuziehen, «bis dass der Tod uns scheidet». Vor allem auch, weil man viel länger gesund und munter bleibt als noch vor Kurzem. Gesund und munter ist für viele gleichbedeutend damit, dass Erotik und Sexualität eine wichtige Quelle von Lebensfreude bleiben sollen.

Gibt es einen dritten Weg zwischen Resignation und Trennung, um der sexuellen Abnützung entgegenzuwirken?
Der polnische Lyriker Stefan Napierski beschreibt den einzig gangbaren Liebesweg so: «Lieben heisst sich mit der Wirklichkeit begnügen.» Mit den beiden Wirklichkeiten, der deinen und der meinen, würde ich hinzufügen.
«Schicksalsschläge sind aus meiner Sicht eher geeignet, die Verbindung zwischen zwei Menschen zu vertiefen.»

Klaus Heer

Im Film «Wolke 9» beginnt eine verheiratete 65-jährige Frau mit einem 76-Jährigen eine sexuelle Affäre. Fand bei der Generation 65+ eine Art stille Revolution in Bezug auf sexuelle Freiheit statt?
Die 68er-Sexrevolution war ja nicht so still. Ihre Ausläufer haben wohl die nachhaltigsten Spuren bei den heutigen «Alten» hinterlassen. Damals hat man begonnen, sich an die Idee der sexuellen Freiheit zu gewöhnen. Allerdings braucht ein alter Mensch immer noch ein stattliches Quantum Unverschämtheit, um sich diese Freiheit auch wirklich zu nehmen.

Eine Aussenbeziehung ist ja oft auch die Folge von unterschiedlichen sexuellen Bedürfnissen im Paaralltag. Verstärkt sich dieses Dilemma im Alter, weil die Lebenszeit begrenzter wird?
Es gibt praktisch kein Paar, das nicht mit einem Gefälle an Sexbedürfnissen zurechtkommen müsste. Und zwar ein ganzes Eheleben lang. Dieses Gefälle kann also nicht der Hauptgrund für sexuelle Untreue sein. Ausschlaggebend sind vielmehr die Versuchungen, denen man ausgesetzt ist. Gelegenheit macht Liebe. Und es kann alle treffen, nicht etwa nur jene, die in einer Frustbeziehung leben oder noch jung sind.

Hat das Älterwerden auch die gute Seite, dass man so etwas wie Beziehungsweisheit entwickeln kann?
Weise wird man als Paar, indem man seine unlösbaren Probleme als solche erkennt und aufhört, sie lösen zu wollen. Es kommt darauf an, sie solidarisch miteinander zu tragen. Es wäre aber sicher verfehlt, den Leuten die Weisheit abzusprechen, einer Ehe ein Ende zu setzen, aus welcher alles lebenswerte Leben gewichen ist und die Kraft für einen Neustart fehlt.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor