Dr. Klaus Heer

Bluewin-Magazin 23. August 2015
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Klaus Heer: «Meine Scheidung war eine unselige Prozedur»

Eine Trennung tut weh. Wer extremen Liebesschmerz erlebt, sagt Paartherapeut Klaus Heer, sei unbedingt auf Unterstützung von aussen angewiesen. «Es ist nicht ratsam, in dieser belastenden Situation den einsamen Helden spielen zu wollen.» Wie lange braucht ein Mensch, um eine Trennung zu verarbeiten? Leiden Frauen nach einer Scheidung anders als Männer? Und welches war die schlimmste Trennung in seinem Leben? – Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen hat Bluewin mit dem bekannten Berner Paartherapeut Klaus Heer gesprochen.

INTERVIEW: BRUNO BÖTSCHI
Klaus Heer, welches war die schlimmste Trennung Ihres Lebens?
Die Schlimmste steht mir noch bevor! Das Sterben – die Trennung vom Leben selbst – macht mir Angst und Schrecken. Doch Spass beiseite: Meine Scheidung war übel genug - nach 32 Jahren Ehe eine unselige Prozedur.

Konnte Ihnen Ihre Erfahrung als Paartherapeut nicht helfen?
Es war eindeutig umgekehrt: Die Scheidungserfahrung war mir beruflich von Nutzen. Erlesene Weiterbildung! Hingegen gehört zum gängigen Allgemeinwissen, dass sich niemand am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann.
«Niemand kann sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen.»
Von welchem beruflichen Nutzen sprechen Sie?
Aus Büchern und vom Hörensagen ist es unmöglich, sich den echten Scheidungssumpf hautnah vorzustellen. Seit ich mittendrin gesteckt habe, ist meine Arbeit mit Paaren am Rande der Scheidung von mehr Empathie begleitet. Meine verfeinerte emotionale Fantasie macht mich wacher gegenüber romantischen Ideen über «einvernehmliche» Scheidungen und schmerzfreien Trennungen, zum Beispiel mit Hilfe von netten Mediationen.

Wie lange brauchten Sie, um Ihre Trennung zu verarbeiten? Gab es etwas, das Ihnen dabei besonders geholfen hat?
Nach einer ungesicherten Faustregel braucht man halb so viele Jahre, wie die Ehe gedauert hat, um deren Bruch zu verarbeiten. Das könnte für mich hinkommen. Die grösste Hilfe sind mir meine nächsten Freunde.

Es gibt keine Standardrezepte. Trotzdem: Was raten Sie jemandem, der nach einer Trennung extrem leidet?
Ich bin nicht Psychotherapeut. Aber ich glaube, wer extremen Trennungsschmerz und Liebeskummer erlebt, ist unbedingt auf Unterstützung von aussen angewiesen. Entweder von Seiten seiner Freunde oder er könnte professionellen Beistand beanspruchen. Es ist wohl nicht ratsam, in dieser belastenden Situation den einsamen Helden zu spielen.
«Viele Männer versuchen immer noch das Kunststück, ohne einen engen, vertrauten Freund durch das Leben zu gehen.»
Wer spielt öfter den Helden: Frau oder Mann?
Das Klischee liegt ausnahmsweise nicht daneben: Viele Männer versuchen immer noch das Kunststück, ohne einen engen, vertrauten Freund durchs Leben zu kommen. Und dann, wenn es hart und heftig wird, haben sie niemanden zur Seite.

Was passiert mit diesen Männern?
Dieses Hochrisikoverhalten lässt die Sterblichkeitsrate bei Männern massiv ansteigen. Im ersten Jahr nach der Trennung sterben 250 Prozent mehr Männer, als zu erwarten ist. Vor allem wegen Herzproblemen und Suizid. Bei Frauen gibt es keinen vergleichbaren Effekt.
Was heisst eigentlich trauern? Wie macht man das?
Eigentlich ist es, wie wenn man einen nahen, geliebten Menschen durch Tod verliert. Da trauert man, indem man sich mit dem Verlust beschäftigt, Tag und Nacht vielleicht, zurückgezogen oder an der Schulter von Freunden – jeder auf seine Weise. Jeder erfindet seine eigene Trauer spontan. Liebeskummer ist die Trauer über das Verschwinden eines Menschen aus der Liebe. Verschwinden kann noch quälender sein als der Tod.

Ein Bluewin-Leser mailte uns folgende Frage: «Meine Trennung liegt drei Monate zurück. Wir waren acht Jahre verheiratet und haben zwei Kinder. Ist es normal, dass ich mir momentan nie wieder eine Beziehung vorstellen kann, weil ich einen solchen Schmerz noch nie erlebt habe?»
Der Mann lernt jetzt zum ersten Mal in seinem Leben herben Trennungschmerz kennen. Beides, Trennung und Schmerz, wird er noch öfter erleben. Und er wird froh sein, wenn er mehr und mehr gelernt hat, Trennung und Schmerz als Teile seines Lebens anzunehmen. Das alles ist jetzt gewichtiger als eine neue Beziehung.

Dann ist Trauer so etwas wie eine Depression?
Erich Fromm schreibt, Trauer sei das genaue Gegenteil von Depression. Depression sei die Unfähigkeit, etwas zu fühlen und zu empfinden. Und die Trauer definiert Fromm als eine starke Lebensäusserung. Trauern ist also kein krankhafter Zustand, der so schnell wie möglich weg therapiert werden muss.
«Trauern ist also kein krankhafter Zustand, der so schnell wie möglich weg therapiert werden muss.»
Am stärksten ist der Zustand der Trauer nach einem Todesfall.
Ja, die Trennung durch Tod ist endgültig und eindeutig. Sie macht uns angst und bang. Und die Trauer ist existenziell. Im Unterschied zum Liebeskummer, wenn wir einen Menschen gehen lassen müssen, der einmal zu uns gehört hat. Dieser Kummer ist kompliziert, zusammengesetzt aus vielen verschiedenen und gegensätzlichen Gefühlen wie Schmerz, Verzweiflung, Sehnsucht, Wut, Resignation, Leere, Angst, Gekränktsein. Doch jede Art von Trennung ist letztlich aus dem gleichen Stoff: Wir sind alle vergänglich und sterblich. Auch alle unsere Beziehungen.

Es gibt Menschen, die sagen, Sie fürchten sich nicht vor dem Tod. Sie hingegen sagten am Anfang unseres Gespräches, der Tod sei die schlimmste Trennung Ihres Lebens. Weshalb?
Ich meine nicht den Tod, den wir in Krimis und Western so lieben. Es kracht der Revolver – Schnitt – der Mensch stürzt rücklings auf das Pflaster – Schnitt – tot! Ich meine das Sterben, das langsame, jahrelange. Diese unaufhaltsame Auflösung dessen, was mir lange ganz selbstverständlich gehört hat: Scharf sehen und hören, viel behalten und erinnern, ausdauernd, konzentriert, beweglich und geschmeidig sein in jeder Hinsicht, schmerzfrei und gesund allgemein – all das und noch viel mehr geht den Bach hinunter. Wohl dem, der das alles gelassen und angstfrei hinnehmen kann. Mir gelingt es nicht.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor