Dr. Klaus Heer

20minuten vom 5. August 2016
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«Sexy sein ist für Junge heisser als Sex»

Laut Experten haben Millennials trotz Tinder und Co. weniger Sex als ihre Vorgänger. Schuld daran sei unter anderem die Angleichung der Geschlechter.

VON NIKOLAI THELITZ
Obwohl Dating-Apps boomen und Sex vor der Ehe zur Norm geworden ist, haben Amerikaner im Alter zwischen 20 und 24 Jahren gemäss einer neuen Studie weniger Sex als ihre Altergenossen in früheren Zeiten. In der Schweiz scheint es eine ähnliche Tendenz zu geben.

Michael Ganz von der Fachstelle Sexuelle Gesundheit Schweiz sagt: «Zwar haben wir das nicht wissenschaftlich erhoben, doch mein Bauchgefühl sagt mir, dass der Trend in der Schweiz in dieselbe Richtung geht.» Auch Hans-Peter Dür empfängt in seiner Praxis für Paartherapie vermehrt junge Paare, die wenig Sex haben. Es gibt keine Zahlen, aber Dür hat den Eindruck, dass dieser Befund auch auf die Schweiz zutrifft.

Hemmungen vor Verbindlichkeit

Seine Vermutung: Im Vergleich zu früher gibt es heutzutage weniger Unterschiede zwischen den Geschlechtern. «Männer kümmern sich um den Haushalt, wechseln Pampers und zeigen Emotionen.» Frauen ihrerseits würden Karriere machen, könnten auch die Familienernährerin sein. «Diese gesellschaftliche Entwicklung kann zur Folge haben, dass man den Partner oder die Partnerin als weniger attraktiv findet – und weniger Lust auf Sex mit ihm hat.»

Die Schweizer Paar- und Sexualtherapeutin Rita Schriber erklärt sich die Ergebnisse der Studie unter anderem mit den neuen Kommunikationsmöglichkeiten: «Die Leute stehen ständig per SMS und E-Mail in Kontakt – sich im echten Leben zu treffen, tritt in den Hintergrund und so wird auch der Sex zweitrangig.» Sie könne bei ihren Patienten wie auch in der Gesellschaft ausserdem eine gewisse Hemmung vor Verbindlichkeit feststellen. «Pornos zu schauen, ist einfach. Sich aber auf jemand anderen einzulassen, braucht Mut», findet die Sexualtherapeutin.

«Bettgeschichten sind zu umständlich»

Auch für Paartherapeut Klaus Heer ist klar: «Sexy sein ist für viele Junge heutzutage viel heisser als fleischlicher Sex.» Die sexualisierte Medienwelt trage dazu bei, dass den Jungen die Lust am handfesten Sex vergehe. «Sexiness hat aber mit Sex ungefähr so viel zu tun wie die Speisekarte mit dem Essen.»

Auch der Erfolg von Online-Datingseiten habe nichts mit mehr Sexualität zu tun, findet Dür. «Datingseiten verkörpern gewissermassen das Spiegelbild der Gesellschaft – ein Lebensstil unbegrenzter Möglichkeiten: Man sucht immer nach dem Besseren, der Besseren.» Das müsse nicht unbedingt zu Sex führen. Zudem seien diese neuen internetgestützten Jagd- und Paarungstools für die Jungen oftmals aufregender, als sich tatsächlich auf eine umständliche Bettgeschichte einzulassen, meint Heer.

«Brave Generation»

In den wilden Sechzigern konnte man sich als junger Mensch mit Sex zudem bestens von der älteren Generation abgrenzen und damit provozieren, meint Dür. «Damals waren die Jungen rebellischer und risikobereiter», sagt auch Ganz. Die Erfahrung zeige, dass junge Schweizer beispielsweise im Nachtleben heute braver seien als in früheren Generationen. «Es wird weniger Alkohol getrunken und es gibt weniger Jugendgewalt, da kann es gut sein, dass Junge auch weniger Sex haben.»

Auch sonst seien die Millennials angepasster als ihre Vorgänger. Ganz: «Wir haben es mit einer braven und angepassten Generation zu tun, die im Job oder Studium unter Leistungsdruck stehen.» Zudem sei man heute später bereit für eine feste Beziehung als in früheren Generationen. «In einer Beziehung hat man tendenziell häufiger Sex, als wenn man Single ist.»
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor