Dr. Klaus Heer

Die Weltwoche 28/2014
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«Veritable Kernschmelze»

Betrug, Verheimlichung, uneheliches Kind: Ein Seitensprung wie jener des früheren CVP-Chefs ­Christophe Darbellay ist in erster Linie eine private Tragödie. Wie können Ehen so etwas überstehen?

VON CLAUDIA SCHUMACHER
Sie durfte eine gewisse Sicherheit erwarten, als sie den CVP-Politiker heiratete. Einen Mann, der öffentlich von Familienwerten spricht. ­Einen, der sich später in Interviews als «Pampers-Experte» ganz stilecht mit ihr und den drei gemeinsamen Kindern inszenieren sollte. Die hübsche Juristin Florence Carron Darbellay lebte in einer heilen Welt – so schien es zumindest. Was sie Anfang September wohl empfand, als ihr Mann ihr das Geständnis machte, dass er sie betrogen hatte und die andere Frau ein Kind von ihm erwartet? Wie rührt man in diesem Wissen am nächsten Morgen dem gemeinsamen zweijährigen Söhnchen den Frühstücksbrei an, ohne die Fassung zu verlieren? 

Macht und Sex

«Ein solches Ereignis ist eine veritable Kernschmelze, die eine archaische Eigendynamik entwickelt», sagt der Berner Paartherapeut und Autor Klaus Heer dazu. «Besonders in den ersten Augenblicken ist sie kaum beherrschbar. Sicher nicht von den unmittelbar Betroffenen selbst. Wenn professionelle Assistenz je sinnvoll ist, dann jetzt.»

Wie auch immer sich Frau Darbellay momentan von einem Tag zum nächsten hangelt: Sie hat sich entschieden, ihren Mann nicht zu verlassen. Ob für die Kinder, die Liebe oder die Politik: Die Darbellays wollen auf jeden Fall zu zweit weitermachen. Einfach wird das kaum werden. Eine Frau wie Rita Marley, welche die zahlreichen ausserehelichen Nachkommen (offiziell 12, laut Schätzungen 22–46 Kinder) ihres weltberühmten Gatten Bob mit liebenden Armen empfing, ist im 21. Jahrhundert und in unserem Kulturkreis kaum vorstellbar.

«Der enttarnte Fremdgänger hat nur drei Möglichkeiten: aushalten, aushalten, aushalten!», so Heer. «Aushalten, was an Misstrauen, Erschütterung und Schmerz, Enttäuschung, Wut und Rache aus dem Betrogenen herausbricht. Aushalten und standhalten und da sein.» Wer sich wortreich rechtfertige, sich entschuldige oder den Betrogenen und die Beziehung verantwortlich mache, unterminiere die Chancen für einen Neustart der Beziehung.

Macht und Sex gehen eine Verbindung ein, die auf viele unwiderstehlich wirkt. Es ist, als potenzierten sich die beiden Triebe bei vielen Männern gegenseitig. Womöglich war es der eigentliche Machthöhepunkt, als sich Bill Clinton von der Praktikantin im Oval Office oral befriedigen liess. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer zeugte wie Darbellay ein uneheliches Kind, und US-Demokrat Anthony Weiner opferte seiner sogenannten Sexting-Sucht zuerst die eigene Karriere und lässt jetzt sogar zu, dass sie dem Image seiner Frau und damit auch deren Chefin, Hillary Clinton, schadet. Auch in der Schweiz stolperte ein Geri Müller über seine Nackt-Selfies. 

Natürlich sorgen nicht nur Politiker für prominente Untreue-Skandale. Unvergessen ist der tiefe Fall des früheren CEO der Luzerner Kantonalbank, Bernard Kobler, der seine aus­sereheliche Geliebte (eine Ex-Prostituierte) laut deren Angaben mit Geld und Druck zur Abtreibung gedrängt haben soll und nach Publikwerden der brutal schlecht gehandhabten Affäre seinen Job verlor. Aber wie kann ein Mann, der in der Öffentlichkeit steht, für Sex überhaupt so viel riskieren? Dass Untreue für Politiker und Wirtschaftsbosse noch gefährlicher ist als für Showstars oder normale Angestellte, dürfte vor der Verführung klar sein. Hugh Grant (mit einer Prostituierten), Ben Affleck (mit einer Nanny), Jude Law (mit einer Nanny): All diese fremdgehenden Schauspieler verdienen ihr Geld nicht zuletzt damit, sexy zu sein. Selbst wenn die Partnerinnen nicht immer verzeihen: Die Fans sind nachsichtig. Politiker und Unternehmer, auf deren Wort sich Wähler und Aktionäre hingegen verlassen müssen, tragen bei Affären schnell ­einen gravierenden Imageschaden davon. ­Neben der privaten Misere kommt die berufliche Dimension hinzu. Wieso passiert es ihnen dennoch immer wieder?

«Macht macht sexy», so Paartherapeut Heer. «Für manche Frauen ist dieser Reiz unwiderstehlich. Und manche Politprofis sind anfällig für derlei narzisstische Versuchungen. Allerdings sind auch die gewöhnlichen Leute nicht gefeit vor solchen Vorfällen.» Vielleicht lässt sich das Phänomen bei Politikern so erklären: Aufgrund ihrer Macht sind sie für viele Frauen attraktiver als normale Männer – mehr Versuchung macht mehr Risikobereitschaft verständlich. Dass Normalsterbliche aber nicht besser sind als «die da oben», beweisen Untreuestudien. In Befragungen gibt etwa die Hälfte aller Männer und Frauen an, schon einmal einen Partner betrogen zu haben. Wie kann man dem Beziehungs-Super-GAU vorbeugen? «Prophylaxe ist da nur ein frommer Wunsch», meint Heer mit Blick auf seine langjährige Praxiserfahrung. «Es sind nicht die Paarprobleme, die Leute untreu werden lassen, sondern die Verlockung von aussen.»

Schätzungsweise sechzig bis siebzig Prozent der von Untreue gebeutelten Paare überstünden aber die Erschütterung. «Vielleicht, weil sie sich rechtzeitig daran erinnerten, was sie sich einst bei ihrer Hochzeit geschworen hatten: ‹Wir halten zusammen in guten und in bösen Tagen.›» In diesen bösen Tagen lernten beide einander von einer krass neuen Seite kennen. «Und sie spüren endlich wieder einmal richtige zweisame Hitze», so Heer.

Nicht nur Freunde

«Im Zeitalter von Online-Dating und unkomplizierter Smartphone-Kommunikation ist es leichter denn je, ein Doppelleben zu managen», glaubt die Deutsche Linda-Tabea Vehlen, die einen Online-Bezahldienst für betrogene Frauen anbietet. «Wen datet er noch?» heisst das persönlichkeitsrechtlich und ethisch fragwürdige Internetportal. In einer Datenbank haben die Nutzerinnen Informationen zu Hunderttausenden untreuer Männer hinterlegt. Ist eine Frau unsicher, ob ihr Partner ein Betrüger ist, kann sie in der Datenbank nach ihm suchen. Zudem bietet Vehlen Telefonberatung für Betrogene an. Ihr Rat?

«Frauen neigen zum Kopfkino. Sie malen sich aus, wie der Mann in seidigen Laken mit der viel schöneren anderen, einer Art Märchenfigur, zugange ist. Nur wer das Kopfkino irgendwann ausschalten kann, sollte bleiben. Schliesslich ist Verbitterung keine Option, die irgendwen glücklich sein lässt», so Vehlen.

«Gute Menschen in guten Ehen haben Affären», schrieb die amerikanische Untreueforscherin Shirley P. Glass in ihrem zum Klassiker avancierten Werk «Die Psychologie der Untreue», das auf Englisch erstmals 2003 erschienen ist. In ihren Studien stellte Glass fest, dass «die Anfälligkeit für Seitensprünge in sehr kindbezogenen Familien besonders hoch ist». Ausserdem kommt es häufiger mit Freunden des anderen Geschlechts zum Seitensprung als mit Unbekannten in einer Bar. Der körperlichen Untreue geht meistens eine emotionale voraus. Ist es passiert, sollte man laut Glass dem Partner beichten und dessen Wunden nicht kleinreden, wenn die Beziehung noch ­eine Chance haben soll.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor