Annabelle 1/16
«Gibt’s Liebe auf den ersten Blick wirklich?»
VON KLAUS HEER
«Doch, doch, die Liebe auf den ersten Blick gibts. Wir verfügen sogar über ziemlich viel gesichertes Wissen über diesen magischen Augenblick. Bekannt sind die Hormone, die uns durcheinanderbringen, wenn es uns zustösst. Man weiss, dass uns wie alle anderen Wirbeltiere zeitweise die fixe Idee der Arterhaltung umtreibt. Dann laufen wir durch die Gegend und scannen unsere Artgenossen, ob uns jemand dabei behilflich sein könnte. Fast alle Leute fallen durch unser Fahndungsraster – bis der Blitz einschlägt! Innerhalb von fünf Millisekunden zündet der Funken und löst einen unnachahmlichen Schub aus, das weiss man. Ein Hirnblitz ists, ein jäher Herzinfarkt: Himmel, es passt! Und eine neue Liebesgeschichte hebt ab. Wie der auslösende Liebescode gebaut ist, wissen wir allerdings nicht wirklich. Bei Frauen und Männern ist er unterschiedlich, aber wie genau und warum? Sind die Unterschiede hardwaremässig festgelegt, oder sehen unsere Augen anderes, weil sie es so zu sehen gelernt haben? Ja, die Augen! Sie spielen die zentrale Rolle in diesem Moment. Sie kicken unsere Liebesfantasie an: Wir stellen uns weissgottwas vor in Sachen Traumpartner, Seelenverwandtschaft und zweisames Glück. Weichgezeichnet natürlich, nicht konkret und real. Aber das wollen wir jetzt nicht wissen. Und noch weniger interessiert uns die Tatsache, dass wir es nach 10 oder 15 Jahren nicht mehr schaffen werden, dem Partner oder der Partnerin länger als 10 bis 15 Atemzüge lang tief in die Augen zu schauen.»
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor