Dr. Klaus Heer

Beobachter 1/2016
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«Haut ist viel wichtiger als Schleimhaut»

Paartherapeut Klaus Heer über freiwillige und unfreiwillige platonische Beziehungen.

INTERVIEW: ANDREA HAEFELY
Beobachter: Ist Ihnen die platonische Liebe bei Ihrer Arbeit schon begegnet?
Klaus Heer: Ja, natürlich. Sie ist in meiner Praxis eines der häufigsten Themen überhaupt. Nämlich die un­freiwillige platonische Liebe.

Gibt es denn auch eine freiwillige platonische Liebe? Ja, allerdings sehr viel seltener. Zu mächtig ist die flächendeckende Vorstellung, dass Sex zu einer Liebesbeziehung zu gehören hat wie die Blütenpracht zum Frühling.

Welche Probleme führen denn zur unfreiwilligen Variante? Die Sexualität ist der zerbrechlichste Teil einer Beziehung. Meistens ist sie klimaabhängig, das heisst, sie gedeiht auf die Dauer nur, wenn die anderen massgeblichen Elemente beide Partner zu befriedigen vermögen. Leider genügt das aber längst nicht immer. Die Sexualität gebärdet sich auch häu­fig eigensinnig und verrätselt. Man versteht nicht, warum sie mal blüht, mal verblüht.

Aber kann man denn noch von Liebe sprechen, wenn dieser integrale Teil in einer Beziehung fehlt? Sexualität ist gar nicht ein «integraler Teil» einer Beziehung. Integral ist einzig die Liebe.

Wie meinen Sie das?
Viele, vor allem Männer, verwechseln sexuelles Begehren mit Liebe. Lust zu haben auf einen Partner drückt zunächst vor allem Bedürftigkeit aus; «Liebe machen» heisst sich paaren, weil die Hormone darauf aus sind. Mit Liebe hat das alles nicht viel zu tun. Unsere Kultur hat die Liebe voll sexualisiert.
Was raten Sie einem Paar, das zu Ihnen kommt, weil es eine unfreiwillige platonische Liebe lebt? Ich bitte die beiden, sich konkret vorzustellen, ihre Beziehung würde auf nicht absehbare Zeit so vegetarisch bleiben, wie sie im Moment ist. Dann frage ich sie, ob sie auf die Dauer so keusch zusammenleben oder ihre Liebe kündigen würden. Auf diese Weise gebe ich ihnen die Gelegenheit, sich klar zu werden, welchen Stellenwert sie der genitalen Sexualität in ihrer Beziehung beimessen.

Wie hoch ist der Anteil der Paare, die zusammenbleiben, auch wenn sie keine gemeinsame sexuelle Basis mehr finden?
Nochmals: Die Sexualität eignet sich kaum als «gemeinsame Basis» für eine langlebige Beziehung. Sie ist nicht eine tragende Säule, sie ist viel eher ein Geschenk des Lebens, das einem Paar in den Schoss fallen kann oder auch nicht. Ich schätze, dass 50 bis 60 Pro­zent der Paare, die «zusammen alt werden», ohne oder fast ohne das Fleischliche auskommen oder aus­kommen müssen.

Und welche Gründe haben Paare, die freiwillig platonisch zusammenleben? Jedes dieser seltenen Paare hat seine eigenen Motive. Glücklich die zwei, die sich die Freiheit nehmen, ihre Zweisamkeit auch ohne Sexualität als liebend, verbunden und geborgen zu empfinden. Resignative Reife kann ein Paar befähigen, einander allmählich entgegenzukommen, nachdem beide jahrelang um eine Annäherung gekämpft haben. Man kann sich wun­derbar in der Mitte treffen, indem man sich berührt.

Nur berührt?
Ja, nur berühren und einander halten, fummelfrei! Haut ist für eine lebendige Bezie­hung viel wichtiger als Schleimhaut.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor