Dr. Klaus Heer

Golden Generation 1/2016
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«Vom Geschenk der Sexualität»

In langjährigen Beziehungen können Momente der Zweisamkeit und der Sexualität rar werden. Das weiss der Berner Paartherapeut Klaus Heer aus Erfahrung. Die Sexualität ist für ihn ein Geschenk. Gleichzeitig ist sie für ihn auch das Zerbrechlichste in einer Beziehung. «Je älter das Paar, umso fragiler und anspruchsvoller wird die Erotik.»

INTERVIEW: MARTIN HASLER
Klaus Heer, eine Behauptung: Sex ist DAS Ausdrucksmittel für eine funktionierende Beziehung. Was sagen Sie dazu?
Das stimmt nicht ganz. Sexualität ist das potenteste Ausdrucksmittel für jede Beziehung. Sie drückt aus, wie befriedigend die Zweisamkeit gerade ist. Wenn sie nicht funktioniert, bildet sich das im Bett gewöhnlich noch viel eindringlicher ab, als wenn alles okay ist oder scheint.

Also ist Sex für Sie eher eine Art Momentaufnahme einer Beziehung?
Jede Beziehung setzt sich aus lauter Momentaufnahmen zusammen. Entsprechend auch die fleischlichen Berührungspunkte.

Aber wichtig ist die Sexualität in einer Beziehung trotzdem, oder nicht?
Nicht «trotzdem», sondern gerade deswegen! Etwas Kostbareres als den Moment gibt es nicht.

In langjährigen Beziehungen können Momente der Zweisamkeit rar werden...
Ja, das ist die schmerzliche Erfahrung praktisch aller Paare: Der warme Aufwind vom Anfang schwindet, man verliert langsam an Höhe, die Schwerkraft lässt das Beziehungsglück unaufhaltsam zu Boden gehen. Das tut weh und irritiert. Das ist eigentlich das Motiv der meisten Leute, die zu mir in die Praxis kommen wollen.

Was empfehlen Sie diesen Menschen, wenn die Partnerschaft «zu Boden» geht?
Zuerst will ich wissen, was sie beide erreichen möchten – konkret, wenn sie jetzt mit mir zusammenarbeiten werden. Meistens wollen die zwei nämlich nicht dasselbe. Dann klären wir sorgfältig ab, ob sie einen gemeinsamen Nenner finden und ob das Ziel realistisch ist, das sie anstreben möchten. Und schliesslich finden wir heraus, was beide dazu beitragen müssten, damit der Neustart gelingt.

Es gibt viele Beziehungsratgeber. Gibt es eigentlich ein Patentrezept für das Glück zu zweit?
Ja, das gibt es. In gefälligen Romanen und Filmen und in der sehnsüchtigen Fantasie vieler Leute. Aber in der gelebten Alltagsrealität hat man es ständig zu tun mit Auf und Ab, Hell und Dunkel, Leicht und Schwer. Und wenn man Glück hat, erlebt man ab und zu einen glücklichen zweisamen Augenblick. Eher selten, schätze ich.

Liegt es daran, dass wir im Alter auch immer mehr wissen, was wir wollen oder nicht wollen und deshalb vielleicht auch egoistischer leben?
Wahrscheinlich nicht. Es hängt wohl eher daran, dass wir nicht zufrieden sind, wenn wir «nur» zufrieden sind. Unsere Glückssehnsüchte sind schwer im Zaum zu halten.

Und wie steht es mit der Achtsamkeit gegenüber dem Partner bzw. der Partnerin?
Mir fällt immer wieder auf, dass viele Leute – vor allem auch Ältere und Alte – keinen einzigen der sieben Milliarden Menschen auf der Welt so schnodderig und achtlos behandeln wie den eigenen Partner. Wenn ich ihnen von meinem Eindruck erzähle, erschrecken sie richtig.

Wie sieht es mit der Sexualität aus? Darf und soll man diese im Alter noch oder gerade deswegen ausleben?
Sexualität ist immer ein Geschenk. Besonders wenn sie für beide glückt. Sie ist aber das Zerbrechlichste in der Beziehung, denn: je älter das Paar, umso fragiler und anspruchsvoller wird die Erotik. Kurz: Einen verbrieften Anspruch auf das Geschenk gibt es nicht.
Die Sexualität ist anspruchsvoll?
Wer nicht fähig ist, sich langsam von landläufigen Vorstellungen von Sexualität zu lösen, wird im Bett scheitern. Schleimhäute und Schwellkörper verlieren mit der Zeit mindestens einen Teil ihrer ursprünglichen erotischen Bedeutung. Pornografische Bilder im Kopf stören zunehmend die liebende Gemeinsamkeit.

Und was könnte an deren Stelle treten?
Die Berührung zum Beispiel. Die fummelfreie Berührung, meine ich. Den Partner berühren ohne jede Absicht. Ohne ihn erregen zu wollen. Im Berndeutschen gibt es dafür dieses zauberhafte Wort «acho». «I chume dir a – du chunnsch mir a.» Beim anderen anzukommen ist eine Ursehnsucht eines jeden Menschen. Sie ist ganz leicht und einfach zu erfüllen. Im Gegensatz zur arterhaltenden genitalen Sexualität, die für viele Paare jeglichen Alters ein fast unerreichbares Kunststück ist.

Es gibt allerdings die Behauptung, dass Sex mit dem Älterwerden immer «besser» wird.
Diese Vorstellung verwechselt Sex mit gutem Wein, der – gut gelagert – von selbst köstlicher wird. Einen Kern Wahrheit enthält sie aber doch. Die Chancen, im höheren Alter guten Sex zu schaffen, stehen deutlich besser, als wenn die Haut der beiden straff und pfirsichfein ist. Doch das ist ganz klar investitionsabhängig.

«Investitionsabhängig» klingt jetzt aber sehr geschäftsmässig... was meinen Sie damit genau?
Ich wende mich damit gegen die weitverbreitete irrige Idee, die Liebe sei ein «Geben und Nehmen». Diese Buchhalter-Mentalität schielt ständig darauf, dass ich ja nicht zu kurz komme. Aber die Liebe ist unbedingt darauf angewiesen, dass ich nicht geizig bin, sondern grosszügig und hingegeben. Mein Glück ist die Hingabe. Überall. Auch im Bett natürlich.

Zu Ihrem Buch «Ehe, Sex & Liebesmüh». Darin sprechen Männer und Frauen offen über ihre Partnerschaft und die Sexualität. Auffallend, dass viele nicht mit dem Partner bzw. der Partnerin darüber sprechen...
Das ist nicht wirklich auffällig. Jeder beziehungserfahrene Mensch weiss aus eigener Anschauung, wie viel Mut es braucht, Sexuelles in Worte zu fassen. Intimität zwischen den Beinen ist viel einfacher zu erreichen als Intimität auf Augen- und Ohrenhöhe.

Würde das Darüberreden mit dem Partner aber nicht das «acho» erleichtern?
Der Charme der absichtslosen Berührung besteht gerade darin, dass sie ohne Reden auskommt. Leichter und unverfänglicher geht nicht.

Wenn ein Partner oder eine Partnerin sich ziert, haben Sie einen Tipp, wie das schwierige Thema Sexualität angesprochen werden kann?
Kein Mensch «ziert sich», über Sexuelles zu reden. Wer stumm ist, hat Angst. Und er schämt sich. Weil er sich so nackt und bloss vorkommt. Und die meisten Leute haben schlicht keine Übung im Umgang mit dem Thema. Die Sprache Sex will gelernt sein wie Portugiesisch oder Balinesisch. Ein Einstieg könnte sein, dass man sich ein gemeinsam gewähltes Buch über Sexualität vorliest. Vorerst ohne darüber zu reden. Nur lesen und hören.
© Dr. Klaus Heer: Psychologe – Paartherapeut – Autor